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Zauber hinter dem Zaun

Hinter Bäumen und Sträuchern verstecken sich unterhalb der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur zwölf Häuser. Nun soll diese «Angestellten»-Siedlung von 1946 vier Wohnblöcken mit 120 Wohnungen weichen. Das sorgt für Zoff. Ein kurzer Blick über den Gartenzaun.

Um zu sehen, was sich an der Cadonaustrasse an Churs Stadtrand hinter üppigem Grün versteckt, hilft ein Blick auf die Luftaufnahme. Es dominiert die Psychiatrische Klinik Waldhaus. Darunter reihen sich wie in den Hang getupft zwölf Einfamilienhäuser. Rundherum viel freies Wiesland … wir sind im Jahr 1947. Chur ist noch nicht gebaut.

Die Einfamilienhaussiedlung südlich der Klinik ist das Resultat eines Architekturwettbewerbes, den der Kanton Graubünden im vorletzten Kriegsjahr ausgeschrieben hatte mit der Absicht, den Klinikangestellten Wohnraum zu schaffen. Schliesslich war es eine Arbeitsgemeinschaft aus den drei ersten Preisträgern, die das Areal mit zwölf identischen 4-Zimmer-Einfamilienhäusern bauen konnte. 1946 wurden die ersten Häuser bezogen. Was auf dem Foto besonders ins Auge sticht, sind die grossen Gärten. Selbstversorgung war unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg der Wunsch der Stunde. Die einst grosszügig angelegten Gärten tragen die Handschrift des Zürcher Landschaftsarchitekten Walter Leder (1892–1985), sagt Ludmila Seifert, Geschäftsführerin des Bündner Heimatschutzes, «einem der Pioniere der Landschaftsarchitektur der Schweiz.»

Setzt sich der Kanton Graubünden als Eigentümer durch, sind die Tage der Siedlung gezählt. Über einen Investorenwettbewerb suchte er nach Ideen für die verdichtete Nutzung des Areals – mit erwartbarem Resultat: Eine Siedlung dieser Grösse und an privilegierter Lage gilt aus Investorensicht ökonomisch als Brache. Entsprechend auch deren Vorschlag: Abbruch der zwölf Häuser und Bau von vier Wohnblöcken mit 120 Wohnungen. Seither kämpft der «Verein zum Erhalt der Siedlung Waldhaus» gegen das Vorhaben, mit Einsprachen, einer Petition … entscheiden werden nun die Gerichte.

Dass wir an diesem Herbstmorgen Ludmila Seifert zu einem Blick über den Gartenzaun gebeten haben, hat einen guten Grund. Sie kennt dieses im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) mit dem höchsten Erhaltungsziel «A» qualifizierte Areal. Als Kunsthistorikerin hat sie darüber 2017 ein Gutachten zuhanden der kantonalen Denkmalpflege erstellt. Sie weiss somit auch, was man nicht sieht.  Zum einen sei zu würdigen, dass eine Institution für ihre Angestellten eine Siedlung bauen liess, zum anderen liege hier «ein exemplarisches Beispiel für Bauten aus der Kriegs- und Nachkriegszeit vor, das zeigt, wie man trotz Geld- und Materialmangel gebaut hat.» Das ist am Ort «ablesbar und macht die Siedlung schutzwürdig!». Falsch findet Ludmila Seifert das Vorgehen. Es hätte zu weniger roten Köpfen geführt, «wenn der Kanton einen städtebaulichen Wettbewerb lanciert hätte» auf der Suche nach einer Antwort auf die zentrale Frage: «Kann man die Qualitäten erhalten, die den Schutzwert dieser Siedlung ausmachen, wenn man sie erweitert?»

Lebensraum für Menschen, Pflanzen und die Tierwelt

Wer heute von der Cadonaustrasse hoch- und in die Gärten blickt, kann nachvollziehen, weshalb sich eine Interessengemeinschaft so vehement für den Erhalt dieser Siedlung einsetzt. Sie ist ein Idyll. Die grünen Wiesen vor den funktionalen, schlichten Häusern, die Pflanzgärten mit allerlei Herbstgemüse, die Nadelbäume, die bunten Laubbäume und Sträucher … Wer in diese Üppigkeit schaut, nimmt teil an einem Fest der Farben.

Diesem Zauber hinter dem Zaun erlegen war auch der Landschaftsschützer Hans Weiss. Er hätte sich an dieser Stelle noch mit einem Statement gegen den Abbruch wehren wollen. Dazu kam es nicht mehr. Am 13. Oktober ist Hans Weiss 84-jährig unerwartet verstorben. Und somit bleibt das, was er im Februar 2021 in der NZZ über die Siedlung Waldhaus geschrieben hat, sein schriftliches Vermächtnis für diesen Ort. Hans Weiss nennt die «Hecken, 138 Bäume und kleinen Äcker, die ebenfalls dem Baggerzahn weichen sollen». Über 35 Brutvögel zählte er auf dem Areal: «Wiedenhopf, Specht, Gartenrotschwanz, Mauersegler, Dorngrasmücke. Auch Reptilien wie Ringelnatter und Blindschleichen ist es hier wohl. In mehr als siebzig Jahren ist hier ein Lebensraum für Menschen, Pflanzen und eine ganze Tierwelt gewachsen.» Hans Weiss’ Fazit ist ein Plädoyer für die Natur, verbunden mit dem Wunsch, vor allem bei Neubauten «den hohen Wert alter Gärten und gewachsener Grünräume für die Biodiversität nicht [zu] übersehen».

Ob bei der Siedlung Waldhaus oder anderswo, es wiederholt sich die Frage, die am Ende nur politisch beantwortet werden kann: Sind unserer Gesellschaft Zeitzeugnisse und die Biodiversität etwas wert, oder dürfen sie verschwinden?


Marco Guetg, Journalist

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Dieser Artikel stammt aus der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 4/2024 «Die schönsten Aussichten» (Publikationstermin 26. November 2024).

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