Baudenkmäler und Ortsbilder

Stadtumbau am Stadelhofen

In den 1980er-Jahren erntete man am Stadelhofen, was ein Jahrzehnt zuvor gesät worden war: Dem Paradigmenwechsel im Städtebau verdankt Zürich seinen eindrücklichsten Bahnhof und die Stadelhoferpassage als Fest postmoderner Architektur. Nicht zu vergessen ist der geglückte Erhalt historischer Bauten und Anlagen, die Teil des neuen Ensembles wurden.

Es gibt kaum einen anderen Ort in Zürich, an dem sich baukulturelle Themen der 1970er- und 1980er-Jahre deutlicher abzeichnen als am Stadelhofen. Beinahe wären die mächtigen Platanen am Stadelhoferplatz 1969 einem Verkehrsprojekt geopfert worden, an der Stadelhoferstrasse hielt das Tauziehen um Erhalt und Erneuerung der Liegenschaften aus der Barockzeit bis Ende der 1970er-Jahre an. Und am Bahnhof mündete das Ringen um ein ortsverträgliches Projekt für den neuen S-Bahnhof in eine städtebaulich integrierende Lösung. Erst mit der Eröffnung des neuen Verkehrsbauwerks gingen 1990 mehr als zwei Dekaden aufwühlender Planungs- und Bautätigkeit zu Ende, in denen sich das Stadelhoferquartier stark verändert hatte. Doch war auch ein Bewusstsein für den Wert städtebaulicher Kontiunität entstanden. Bezeichnend für all die Umbau- und die Neubauprojekte jener Zeit sind intensive Aushandlungsprozesse zwischen privaten und öffentlichen Interessen und ein Umdenken in der Art und Anwendung städtebaulicher Leitbilder. Doch feiert sich am Stadelhofen auch facettenreich die Postmoderne: Bullaugen, Glasbausteine, Maschinenzitate und Passagenräume sind Bestandteile eines lustvoll konsequenten Formwillens.

Stadt im menschlichen Massstab

Sitzt man heute am Stadelhoferplatz unter den mehr als hundertjährigen Platanen, ist kaum zu glauben, dass dieser wunderbare städtische Ort einst einer überdimensionierten Anlage für Tram und Forchbahn hätte weichen sollen. Gegen die geplante Fällung der stattlichen Bäume formierte sich in der Bevölkerung Widerstand. Dieser führte zum Erhalt und zu einer neuen Wertschätzung der Platzanlage des 19. Jahrhunderts.

Gleichzeitig war damit ein weiteres modernistisches Projekt beerdigt, das dem Quartier schwer im Magen gelegen hätte. Schon 1966 lehnten die städtischen Behörden die Baubewilligung für ein Geschäftshaus ab, das den Abbruch des gesamten barocken Vorstadtensembles entlang der Stadelhoferstrasse zur Folge gehabt hätte. Die Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau (ZAS) erstellte im Auftrag des Hochbauamts ein Alternativprojekt. Anstatt eines langen, strassenbegleitenden Riegels sah der Vorschlag von René Haubensak und Lorenz Moser differenzierte Baukörper mit einer Passage aus kleinen Gässchen vor, die zum Flanieren und Verweilen einladen. Ausserdem sollten mit dem Sonnen- und dem Baumwollhof zwei der stattlichen barocken Patrizierhäuser erhalten bleiben. Es war das von Haubensak vertretene Nebeneinander der Epochen, das dem geplanten Ensemble räumliche Spannung und städtebaulichen Fortbestand gab. Damit traf die ZAS den Nerv der Zeit. «Es war eines jener Projekte, die allen einleuchten, die aber, weil sie von allen Beteiligten auch ein Umdenken erfordern, undurchführbar sind», schrieb Benedikt Loderer 1984 rückblickend im Tages-Anzeiger. Die ZAS hatte das Umdenken aber schon in Gang gesetzt. 1976 gingen die barocken Palais, inzwischen denkmalgeschützt, in den Besitz der Stadt über, und Ernst Gisel entwarf, teilweise in Kooperation mit Martin Spühler, die Stadelhoferpassage, mit der er die Kernideen der ZAS in Architektur übersetzte.

In den 1980er-Jahren galten Passagen als Inbegriff von Stadt: Während die Einkaufspassage der Metalli grossstädtisches Flair nach Zug brachte, standen am Stadelhofen verschlungene Altstadtgassen Pate und der menschliche Massstab im Mittelpunkt. Marktstände, Läden und Cafés begannen nach der Eröffnung 1984 die Erdgeschosse zu beleben. In den oberen Etagen formulierte der Nutzungsmix aus Büros, Praxen und Wohnungen ein Statement gegen die funktionsgetrennte Stadt der Moderne. Trotz dem Zugewinn an öffentlichem Raum blieben ökonomische Interessen gewahrt: Wo früher niedrige Hofgebäude und private Gärten sanft in die Parklandschaft der Hohen Promenade überleiteten, türmen sich nun gewaltige Baumassen aus rotem Backstein.

Die S-Bahn kommt

Mit dem Ja zur S-Bahn 1981 veränderte sich auch die Stadt: Zürichs Bahnhöfe wurden zu Zentren von Mobilität und Konsum, die Agglomeration rückte im dichten Takt der Nahverkehrszüge an die Innenstadt heran. Der etwas verschlafene Bahnhof Stadelhofen, den die Schweizerische Nordostbahn-Gesellschaft 1894 als Teil der rechtsufrigen Zürichseelinie unterhalb der Hohen Promenade eröffnet hatte, wurde nun als S-Bahnhof Ankunftsort für den halben Kanton: Der Zürichbergtunnel verband ihn mit Stettbach, den Gemeinden des Zürcher Oberlands, mit Uster und Winterthur.

In all den Diskussionen um den Stadelhofen wirkte der 1973 gegründete Stadtzürcher Heimatschutz als zivilgesellschaftliches Korrektiv. Er sah sich als Anwalt der Geschichte und rief mit seinen Vorstössen immer wieder den Wert historischer Bauten und Ensembles in Erinnerung. Damit die Bautätigkeit nicht unkontrolliert auf den Promenadenhügel überschwappte, erwirkte er für dessen ortsbildprägende Villen und Gärten eine Anpassung des Zonenplans. Auch konnten die SBB dazu bewegt werden, für die äusserst heikle Einpassung des neuen Bahnhofs ein qualitätssicherndes Verfahren durchzuführen. Arnold Amsler, Santiago Calatrava und Werner Rüeger schafften mit ihrem Vorschlag das Kunststück, die neue Infrastruktur ins Stadtmuster einzufügen, ohne das städtebauliche Gleichgewicht zu stören. Den neuen Bahnhof kennzeichnete eine hohe gestalterische Eigenständigkeit, und gleichzeitig vernetzte er sich gekonnt mit der bestehenden Umgebung. Der Kommerz konzentrierte sich als Ladenpassage im «Walfischbauch» des Untergeschosses. Ähnlich in seiner Zeit verankert ist der Umbau und die heute kaum noch nachvollziehbare Entkernung des bestehenden Aufnahmegebäudes. An dessen Flanken wurde das Haus zum Olivenbaum rekonstruiert, und das Haus zum Falken durfte bleiben, wie es war.

Nach dreissig Jahren geht der Ausbau am Stadelhofen in die nächste Runde: Der Bahnhof benötigt ein viertes Gleis, tief drin im Moränenhügel wird ab etwa 2026 weitergebaut. Der berühmte Calatrava-Bau soll davon unberührt bleiben. Mit dem Ersatzneubau des Hauses zum Falken drängt sich gleichzeitig ein heutiges Projekt Calatravas ins Bahnhofs-Ensemble, das auch Fragen aufwirft: Wie kommuniziert das Haus mit dem Ort? Und wie geht es auf die Massstäblichkeit seiner Umgebung ein? Fragen, die man nach vielen ruhigen Jahren am Stadelhofen vielleicht nicht mehr gewohnt war, sie rechtzeitig und laut genug zu stellen.

Umso mehr lohnt der Blick zurück in die 1980er-Jahre, in denen bestehende Qualitäten in Erneuerungen einbezogen wurden, sich neben Akteuren der Baukultur auch Politik und Behörden für den Bestandserhalt starkmachten und in denen ein Nebeneinander unterschiedlicher Epochen die Stadt in ihrer Vielfalt stärkte.

Autorin

Lucia Gratz, Architektin und Redaktorin der Zeitschrift werk, bauen + wohnen