Erst der Perspektivenwechsel eröffnet neue Blickwinkel. So bestieg der Gelehrte Francesco Petrarca im 14. Jahrhundert den Mont Ventoux in Frankreich und begründete damit retrospektiv den literarischen Beginn der Renaissance. Ein eindrückliches und einprägsames Bild: Jemand steigt ohne weiteren Grund auf einen Berg, geniesst die Aussicht und kommt dadurch zur Erkenntnis. Zur Erkenntnis, dass die Welt und die Natur es wert sind, betrachtet, erforscht und – mit Blick auf die heutige Zeit und die Arbeit des Heimatschutzes – geschützt zu werden. Das Nachdenken und Hinterfragen des Menschseins sind bis in die Gegenwart reichende Folgen dieses Aufstiegs.
Einen Perspektivenwechsel will auch die neue Publikation Die schönsten Aussichten in der über 20-jährigen Reihe des Heimatschutzes erreichen. Baukulturelle Qualität und öffentliche Zugänglichkeit sowie eine möglichst ausgewogene Berücksichtigung der Landesregionen und Erstellungsepochen bilden die Auswahlkriterien der 50 Aussichtspunkte mit ihren dazugehörigen Aussichten. Die Sammlung erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zelebriert dafür die Vielfalt. Die schönsten Aussichten richtet sich an ein breites Publikum. Der etwas andere Reiseführer durch die Schweiz, soll dazu animieren, die Spuren der Raumplanung, sich verändernde und intakte Landschaften, Ortsbilder und Baudenkmäler niederschwellig zu entdecken.
Natürlich boten bereits im Altertum und im Mittelalter höher gelegene Burgen oder Festungen die beste Aussicht, um herankommende Feinde genügend früh zu entdecken. Solche Gebäude von militärisch-politischer Bedeutung sind noch heute in beträchtlicher Zahl in der Schweiz vorhanden, zum Teil gut erhalten, zum Teil als Ruine. Die von den Habsburgern gegründete Burg Schenkenberg oder was von ihr übrig blieb, fand auch Eingang in Die schönsten Aussichten. Sie kam für den symbolischen Betrag von 50 Schweizerfranken im Jahr 1918 in den Besitz des Aargauer Heimatschutzes. Danach wurde sie mehrmals umfassend saniert und wissenschaftlich aufgearbeitet – und nicht unwesentlich für den Entscheid der Auswahl in die neuste Publikation: Die Landschaft des einst vom Weinbau geprägten Schenkenbergertals konnte durch Landankäufe vor der Zersiedelung geschützt werden, und dadurch konnte auch die schöne Aussicht darauf erhalten bleiben.
Doch weil die Menschheit aktiv und oft ohne Rücksicht auf Verluste in die Umwelt eingreift, sind manche Aussichten heute weniger malerisch als zu Zeiten der Habsburger oder Petrarcas. Wir schliessen die Augen nicht vor Veränderungen. Die Natur wird seit Mitte des 18. Jahrhunderts, in unseren Breitengraden mit Jean-Jacques Rousseau oder Johann Wolfgang von Goethe, gezielt betrachtet und dokumentiert, so gesehen reiht sich die Publikation in diese Art der (Bau)Kultur- und Umweltbetrachtung ein.
Der Alpinismus und die sportliche Besteigung hoher Gipfel durch vorwiegend englische Touristen halten ab Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz Einzug. Diese vornehmen Gäste brachten auch das Tennisspiel Ende des 19. Jahrhunderts in die Schweiz. Bald wurden vor den Kurhotels Tennisplätze angelegt. Derjenige in Mürren – mit der unbestritten schönsten Aussicht in der Schweiz – befindet sich seit 1910 zuvorderst auf dem Plateau über dem Lauterbrunnental und gehörte einst zum Grand Hotel und Kurhaus. Das Jungfrau-Massiv ist zum Greifen nah, und je nach Wetter glänzen der Eigergletscher, der Jungfraufirn, der Silberhorn- und der Giesengletscher um die Wette. Es ist zu hoffen, dieses Schauspiel der Natur schmilzt nicht in weiterem Rekordtempo davon.
Wir mussten bei der Arbeit an der Publikation einmal mehr schmerzlich feststellen, dass der Klimawandel uns alle und auch die Sicht auf die Schweiz betrifft: Ein äusserst niederschlagsreicher Sommer verhinderte den klaren Blick, der davor bereits durch den Saharastaub in der Atmosphäre getrübt worden war. Manchen Bildern sieht man die Trübung noch an. Doch weitaus folgenreicher waren die teils verheerenden Murgänge in der Südschweiz, die unsere Auswahl und Planung nicht nur einmal auf den Kopf stellten und, viel schlimmer, grosses Unheil anrichteten.
Zusammen mit dem alpinen Pioniergeist trug auch die technische Entwicklung zur Erschliessung hoher Aussichtspunkte bei. Berggipfel können seither auch von weniger sportlichen Touristinnen und Touristen erreicht werden. Gleichzeitig erreichte die Hotelarchitektur luftige Höhen: Das Hotel Schreiber auf der Rigi erzählt die Geschichte der Hotelbauten aus der Belle Époque ganz eindrücklich – auch wenn es 1952 abgebrochen wurde. Aus dem Abbruchmaterial des prunkvollen Hotels wurde etwas unterhalb ein einfacher, an Hospizbauten angelehnter viergeschossiger Steinbau mit Satteldach erstellt, der die Aussicht von Rigi Kulm weniger beeinträchtigt. Der Abbruch wurde vom Schweizer Heimatschutz durch einen Schoggitalerverkauf sogar finanziell unterstützt. Genau, richtig gelesen: Der Schweizer Heimatschutz machte sich 1951 für den Abriss zweier «Hotelkästen» aus der Belle Époque stark, die auf Rigi Kulm standen. Es war «Höhepunkt und Abschluss» der bereits seit einem halben Jahrhundert geführten Auseinandersetzung, denn bereits im ersten Jahr seiner Existenz machte sich der Schweizer Heimatschutz gegen die Hotelgrossbauten aus dem 19. Jahrhundert stark, die, so das Argument, die Landschaft verschandelten. In der Nachkriegszeit störte man sich dann auch an dekorativen Zierformen, Zinnen, Türmen und Kuppeln. Wir lernen: Die Arbeit des Heimatschutzes und die Ansichten über hohe Baukultur sind Kinder ihrer Zeit.
Neues lernen, Altes hinterfragen
Mit der Publikation Die schönsten Aussichten plädieren wir für einen Perspektivenwechsel und die Offenheit, Neues zu lernen und Altes zu hinterfragen – ganz im Sinne Petrarcas. Die im handlichen Büchlein ausgewählten Orte zeigen auch auf, dass der Schweizer Heimatschutz seinen Beitrag für die Inwertsetzung, Pflege und Erhalt von Land- und Kulturlandschaften aller Art leistet. Dazu gehören auch die vom Menschen geschaffenen Artefakte wie Hoch- und Infrastrukturbauten. Die Ausflugsziele vermitteln die Vielfalt, die unter hoher Baukultur im Sinne der Erklärung von Davos zu verstehen ist. Manchmal hat die Aussicht mehr Gewicht, manchmal der Aussichtsturm, die Brücke oder das Gebäude. Bei schönen Aussichten bilden auch das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS), das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) und das Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) eine Grundlage für die Auswahl, entsprechen sie doch den Kernanliegen des Schweizer Heimatschutzes.
Es ist natürlich nach wie vor eine kühne Behauptung, dass es sich bei vorliegender Auswahl von 50 Aussichtspunkten und ihrer Aussicht um die «schönsten» handelt. Überprüfen Sie es selbst, entdecken Sie Neues, und staunen Sie über Objekte, die man nicht nebeneinander erwarten würde. Mit der Publikation wollen wir zeigen, dass Schutz und Erhalt des kulturellen Erbes, sei es landschaftlich oder baukulturell, schweizweit hohe Priorität geniesst – wir uns aber ohne Unterlass dafür einsetzen müssen, damit sich Partikularinteressen nicht vor das Gemeinwohl und somit die Arbeit des Schweizer Heimatschutzes stellen.
Jenny Keller, Schweizer Heimatschutz
Dieser Artikel stammt aus der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 4/2024 «Die schönsten Aussichten» (Publikationstermin 26. November 2024).
Die schönsten Aussichten der Schweiz
Lassen Sie sich von unserer neusten Publikation Die schönsten Aussichten inspirieren, und erfahren Sie Wissenswertes über 50 aussergewöhnliche Aussichtspunkte und die Ausblicke, die sie bieten.