Baudenkmäler und Ortsbilder

Lebendige Randregion

Nach Jahrzehnten der Rezession hat Valposchiavo neues Selbstvertrauen gewonnen. Geschickt nutzt das Tal regionale Ressourcen und gestaltet seine Zukunft im Dialog mit der Welt.

1957 beschrieben Riccardo Tognina und Romerio Zala das Tal als «das verlorene Tal», eine abgelegene und beinahe vergessene Region. Die schwierige Lage war vor allem der geografischen Abgeschiedenheit geschuldet, aber nicht nur. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachte der Bau der Berninabahn und der Wasserkraftwerke Modernität ins Tal. Doch in der wirtschaftlichen Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit blieb Valposchiavo weitgehend aussen vor. Fehlende Perspektiven führten zu einer massiven Abwanderung, wie in vielen peripheren Regionen. Zwischen 1950 und 2000 verlor das Tal ein Fünftel seiner Bevölkerung und zählte nur noch 4 427 Einwohnerinnen und Einwohner.

Doch in jüngster Zeit kam es zu einer Kehrtwende. Erste Anzeichen dafür zeigten sich Mitte der 1980er-Jahre, als einige Landwirte begannen, Heilkräuter anzubauen – ein innovatives Produkt, das den Weg für weitere Entwicklungen ebnete.

Aufschwung nach Katastrophe

Im Sommer 1987 brachte ein dramatisches Ereignis eine unerwartete Wende. Nach anhaltenden Regenfällen traten die Bäche über die Ufer. Eine gewaltige Schlammlawine aus dem Val Varuna überschwemmte den Hauptort Poschiavo. Auch in anderen Dörfern entstanden schwere Schäden. Das Unglück erregte grosse mediale Aufmerksamkeit, und aus der gesamten Schweiz strömte Solidarität ins Tal. Jahrelang arbeiteten die Bewohnerinnen und Bewohner an der Wiederherstellung der Häuser und der Sicherung des Gebiets. Der Ortskern von Poschiavo, den einst ausgewanderte Konditoren prachtvoll gestaltet hatten, erstrahlte erneut in altem Glanz. Gleichzeitig erlebte der Tourismus einen neuen Aufschwung.

Regionale Stärken nutzen

Ein Jahrzehnt später führte die periphere Lage zu einem weiteren unerwarteten Vorteil. Swisscom wählte Valposchiavo als Testregion für neue digitale Technologien aus. Das Interesse war gross, und im Jahr 2000 hatte das Tal die höchste Internetdichte der Schweiz. Vor Ort wurde der technologische Wandel aktiv begleitet. 2002 entstand das Polo Poschiavo, ein Weiterbildungszentrum für Erwachsene in Valposchiavo und Bregaglia. Die Hoffnung auf eine breite Nutzung von Telearbeit erfüllte sich zwar nicht, doch das Projekt förderte die Entstehung von Unternehmen im IT- und Dienstleistungssektor. Dadurch gewann die lokale Wirtschaft an Stabilität.

Parallel dazu führte die Liberalisierung des Energiemarkts zu einer weiteren positiven Entwicklung. Der Kanton Graubünden forcierte die Fusion mehrerer Wasserkraftunternehmen. Die ehemaligen Forze Motrici Brusio wurden dabei zum stärksten Partner in der neuen Unternehmensstruktur. So wurde Poschiavo zum Hauptsitz von Repower, was zusätzliche Arbeitsplätze und wirtschaftliche Ressourcen ins Tal brachte.

Auch die Landwirtschaft entwickelte sich weiter und fand mit der Bioproduktion eine zukunftsweisende Nische. Besonders innovativ war ein Projekt, das 2007 mit der Restaurierung der alten Mühle von Aino begann. Eigentlich als kulturelles Vorhaben gestartet, entwickelte sich daraus eine Zusammenarbeit mit landwirtschaftlichen Betrieben zum Anbau von Buchweizen und Roggen.

Dieses kleine Projekt war der Ausgangspunkt für eine grössere Initiative: 100% Valposchiavo. Die Idee war, Landwirtschaft, Tourismus und kulinarisches Erbe unter einer gemeinsamen Marke zu vereinen. Regionale Produkte wurden zu Botschaftern des Tals. Durch den Fokus auf Qualität und Tradition erlebte der Tourismus einen regelrechten Boom und erreichte Jahr für Jahr neue Rekorde.

Die Kraft der Gemeinschaft

Ein entscheidender Erfolgsfaktor war das soziale Gefüge. In Valposchiavo kennt man sich, und viele Ideen entstehen durch den direkten Austausch der Menschen. Ebenso wichtig war der Kontakt zur Aussenwelt. Fast alle Jugendlichen verlassen das Tal für ihre Ausbildung in der restlichen Schweiz. Doch viele kehren zurück – mit neuen Erfahrungen und wertvollen Kompetenzen.

Trotz seiner Abgeschiedenheit ist dieser Mikrokosmos immer im Dialog mit der Welt. Doch das wahre Erfolgsgeheimnis liegt in der sozialen Kohäsion. Mit fast 80 Vereinen und Organisationen – von Fussball über Museen bis hin zu Tanz und Philatelie – bietet das Tal ein aussergewöhnlich reiches gesellschaftliches Leben.

In Valposchiavo, einer peripheren Region der Schweiz mit einer sprachlichen Minderheit, wissen alle: Lebensqualität und Erfolg hängen direkt von der gemeinsamen Initiative ab. Dieses Bewusstsein hat die wirtschaftliche, kulturelle und demografische Wiederbelebung ermöglicht. 


Daniele Papacella, Journalist

Zeitschrift

Dieser Artikel stammt aus der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 2/2025 «Berggemeinden im Aufbruch» (erschienen am 27. Mai 2025).

Preisverleihung

Die Übergabe des Wakkerpreises an Poschiavo findet am 23. August 2025 im Rahmen einer öffentlichen Feier statt. Eine Publikation zum Wakkerpreis 2025 mit Beiträgen in deutscher und französischer Sprache erscheint demnächst.