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In der Waggonwerkstatt

Thomas Pulfer war KV-Stift, und Martin Gysin ging noch zur Schule, als sie 1985 den Verein Historische Eisenbahn Gesellschaft gründeten. Sein Zweck: die Restaurierung alter Eisenbahnwagen. Seit 1991 geschieht dies in der Rotonde in Delémont, wo derzeit eine Preziose aus dem Jahr 1902 ihren letzten Schliff erhält: ein Personenwagen vom Typ B 3505.

Auf dem Areal der Rotonde in Delémont, knapp zehn Gehminuten vom Bahnhof entfernt, lagert hinter verputztem Mauerwerk, was jedes Bähnlerherz höherschlagen lässt. Zwei fahrtüchtige Dampflokomotiven zum Beispiel, die «Zephir», Baujahr 1874, und die SBB-Dampflok 8485, Baujahr 1907. Doch solche publikumswirksamen Maschinen, die durch die Landschaft fauchen, stehen nicht im Fokus der Historischen Eisenbahn Gesellschaft (HEG). Die Vereinsmitglieder haben sich vor allem der Restaurierung historischer Bahnwaggons verschrieben. «Dieser Personenwagen des Typs C, Baujahr 1897», verrät Präsident Thomas Pulfer bei einem Besuch, «war das erste Projekt des noch jungen Vereins.» 1985 erworben, wurde der Wagen von der HEG in den folgenden 15 Jahren originalgetreu restauriert und wieder betriebsfähig gemacht.

B 3505: Rückkehr eines Originals

Das «Gesellenstück» der HEG und der Stolz der Macher steht jedoch in einem Nebenraum: ein Personenwagen vom Typ B 3505, ein 16 Tonnen schweres Fahrzeug mit 40 Sitzplätzen aus dem Jahr 1902. Bis 1958 war er im Einsatz, wurde dann als Bremsversuchswagen zweckentfremdet, 1976 endgültig ausrangiert und einem Schrotthändler zur Verwertung übergeben. Doch der liess sich Zeit. «Das war unser Glück», sagt Pulfer. 1989 übernahm die HEG den ausgeweideten Wagen. Seither wird gehämmert, gegossen, geschraubt und gepinselt. Tausend Dinge sind nötig, um den Originalzustand nach und nach wiederherzustellen, doch bald sind sie am Ziel.

Pulfer steht vor dem glänzenden, grün lackierten Wagen. Es folgt ein eisenbahnhistorischer Abriss: Er erklärt die Entwicklung des Beleuchtungssystems, weist auf die Beschriftung mit der SBB-spezifischen Typographie hin … Der Versicherungstreuhänder mit eisenbahntechnischem Flair und Wissen könnte den Besucher mühelos schwindelig reden. Er ist jedoch nachsichtig und beschränkt sich auf das Wesentliche.

Im Inneren des alten Wagens riecht es neu. Die Messingteile sind poliert, einzelne Gepäckablagen bereits montiert. Die Sitze wurden, «nach dem Vorbild zweier noch vorhandener Originalsitze» wiederhergestellt, der Stoff nach einem originalen Muster gewoben. Farbe und Holzmaserung müssen stimmen, die Emailleschilder sollen möglichst an der ursprünglichen Stelle angebracht werden. Was entsteht, soll so authentisch wie möglich sein. «Ich behaupte», sagt Thomas Pulfer, «dass wir bei diesem Wagen den Originalzustand zu 90 Prozent erreicht haben.» Was noch ansteht: Gepäckträger montieren, Linoleumböden freilegen, Sitzpolster platzieren, hier und da eine Retusche anbringen …

Durch Fronarbeit zur Fahrfreude

Hinter der originalgetreuen Restauration des Personenwagens steckt Detektivarbeit. Fotos und Bildbände werden gewälzt, Pläne studiert, in Publikationen geblättert, das Internet durchforstet. «Martin Gysin ist unser Historiker», sagt Pulfer. Mit ihm hat er den Verein gegründet. Mittlerweile zählt er rund 100 Mitglieder. Fünf bis sechs von ihnen versuchen, in kleinen Schritten das zu verwirklichen, wovon die beiden jungen Enthusiasten in jenem Juni 1985 träumten.

Im Sommer werden sich die Macher an einem Wagen erfreuen, der vor über 100 Jahren in dieser Ausstattung über die Schienen rollte. Sie blicken aber auch auf sieben Jahre Fronarbeit und ein stattliches Budget zurück. 600000 Franken hat das Projekt B 3505 gekostet, ein Betrag, der über die Jahre durch Spenden, Firmensponsoring, Lotteriefonds, Stiftungen und weitere Zuwendungen zusammengekommen ist. Im September lädt die HEG zur Jungfernfahrt mit dem neu-alten B 3505, dem einzigen betriebsfähigen Personenwagen der Schweiz, mit dem Reisen in der «Polsterklasse» wie vor 120 Jahren erlebt werden kann.

Damit erreicht die HEG ein wichtiges Ziel: Sie will der Öffentlichkeit zeigen, was in den Hallen entstanden ist. «Wir restaurieren unsere Wagen nicht nur fürs Museum», erklärt Pulfer, «wir wollen sie erlebbar machen.» Dahinter steckt durchaus eine kulturpolitische Absicht. «Wir finden», fährt er fort, «dass die Eisenbahn als mobiles Kulturgut – analog zur Baukultur oder zur Landschaft – ein schützenswertes Kulturerbe ist.» Er skizziert dem Besucher eine Vision: Wie die HEG eines Tages eine kleine historische Komposition
durch die Landschaft dampfen lässt, mit Lokomotive, 1.- und 2.-Klasse-Wagen, einem reinen 2.-Klasse-Wagen, einem 3.-Klasse-Wagen und einem Gepäckwagen, «wie vor 150 Jahren». 


Marco Guetg, Journalist

 

Rotonde Delémont

Die Rotonde Delémont ist ein ringförmiger Schuppen mit einer Fahrzeughalle und einer kleinen Werkstatt um eine zentrale Drehscheibe. Sie wurde 1889/90 von der Jura-Simplon-Bahn erbaut und diente dieser ab 1890 als Depot für Dampflokomotiven, später der SBB als Reparaturwerkstatt. 1991 genehmigte die SBB der Historischen Eisenbahn Gesellschaft (HEG) eine Teilnutzung, 1997 wurde die inzwischen zum Kulturgut von nationaler Bedeutung erhobene Anlage renoviert. Seither steht ein grosser Teil der Halle der HEG und der Stiftung SBB Historic als Aufbewahrungsort für historisches Bahnmaterial sowie als Depotmuseum zur Verfügung.

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Dieser Artikel stammt aus der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 2/2025 «Berggemeinden im Aufbruch» (erschienen am 27. Mai 2025).

HEG

Die Historische Eisenbahn Gesellschaft rettet und restauriert technisches Eisenbahnkulturgut seit 1985 und betreibt zusammen mit SBB Historic das Depotmuseum Rotonde in Delémont.