Baukultur

Experimente in alle Richtungen

Porteous, das Gebäude zur Schlammbehandlung der Abwasserreinigungsan­lage (ARA) Aïre, das über 20 Jahre leer stand, verwandelt sich in ein selbstverwaltetes Kulturzentrum. Ein erster sanierter Teil dieses architektonischen Überbleibsels aus den 1960er-Jahren, das heute im Inventar schützenswerter Gebäude aufgeführt ist, wurde im Juni 2023 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

«Prenons la ville» – ein Kollektiv, das für das Recht auf Wohnen und für eine Stadt kämpft, die für und von ihren Bewohnenden entworfen wird – nutzte im August 2018 das jährliche Flossrennen auf der Rhone, das rund 20 Jahre zuvor von der Intersquat-Bewegung lanciert worden war, um das Porteous-Gebäude zu entern. Der Genfer Staatsrat hatte das Bauwerk, das aufgrund seines Potenzials als Veranstaltungsort für Kultur und Partys aufgefallen war, dem Sicherheits- und Justizdepartement zugeteilt, das dort eine Haftanstalt für Gefangene am Ende ihrer Strafzeit einrichten wollte. Die Aktion des Kollektivs war aber erfolgreich: Nach sechs Monaten Besetzung und Animationen beschlossen die Genfer Behörden, das Gebäude an das Departement für sozialen Zusammenhalt zu übergeben, das unter anderem für das Amt für Kultur und Sport zuständig ist.

La Verseuse – das Verwaltungsgebäude der ARA Aïre, das ebenfalls eine hohe architektonische Qualität aufweist und im Inventar eingetragen ist – blieb aber dem Amt für Bewährungshilfe und Integration zugeteilt und wurde bedauerlichen Eingriffen unterzogen, um es seiner neuen Funktion anzupassen.

Im März 2019 einigten sich die Besetzenden mit dem Kanton, dem die Räumlichkeiten gehören, und beendeten ihre Aktion. Ein Teil von ihnen erklärte sich zur Mitarbeit in einer neu gebildeten Kommission bereit, die sich Gedanken über die künftige Nutzung dieses industriellen Relikts und seines einmaligen Standorts am Ufer der Rhone machen sollte. Zu diesem Zweck wurde der Verein Porteous gegründet.

Gelungenes Zusammenspiel von Form und Funktion

Porteous: Dieser Begriff bezeichnet ursprünglich ein englisches Verfahren zur thermischen Schlammkonditionierung, das in der ARA Aïre eingesetzt wurde. Dabei wurde der Klärschlamm durch Erhitzen auf 190 °C eingedickt, durch Filterpressen entwässert und dann auf Lastschiffe verladen. Diese transportierten den sogenannten Schlammkuchen flussabwärts zur neben dem Staudamm und dem Wasserkraftwerk Verbois gelegenen Verbrennungsanlage Cheneviers, wo er verbrannt wurde. Der Name dieses Verfahrens wurde im übertragenen Sinne zum Namen des Gebäudes und schliesslich zu jenem des Vereins.

Die ARA Aïre (1967) ist nur ein Element des städtischen Abwassersystems, das in den 1950er- und 1960er-Jahren unter der Leitung von Ingenieur Yves Maystre, damals Chef der Abteilung für Abwasserentsorgung im Genfer Baudepartement und später Kantonsingenieur, geplant wurde. Die Infrastruktur, die zunächst für 400 000 Personen dimensioniert war, aber für eine Agglomeration mit 800 000 Menschen erweitert werden konnte, umfasste ein Netz von primären Abwassersammlern, Pumpstationen, Klär- und Kehrichtverbrennungsanlagen. Die Lage der wichtigsten Bauwerke entlang der Rhone – vom Umschlagplatz für den Genfer Abfall in La Jonction bis hin zum Staudamm von Verbois – ermöglichte es, von den tiefen Kosten der Binnenschifffahrt zu profitieren, und verlieh dem System eine aussergewöhnliche räumliche Dimension.

1962 gewann das Ingenieurbüro Heinz Weisz den internationalen Wettbewerb zur technischen Umsetzung der ARA Aïre. Weisz war sich aber bewusst, dass die landschaftlichen und architektonischen Komponenten des Projekts die Hand eines Architekten erforderten, und setzte sich dafür ein, dass Georges Brera mit dem Projekt beauftragt wurde. Der Architekt und sein Mitarbeiter Peter Böcklin gliederten das Gelände nach einem orthogonalen Raster: So konnten sie die Funktionen unter Berücksichtigung der technischen Anforderungen positionieren und zugleich das Gefälle des Geländes nutzen, um die Bauten in die Landschaft einzufügen. Der Industriekomplex wird durch zwei am Flussufer stehende Volumen aus Rohbeton geprägt: La Verseuse im Norden und Porteous im Osten. Während das erste Gebäude auf die Architektursprache von Le Corbusier verweist, wirkt das zweite beinahe konstruktivistisch und wurde vom Tessiner Architekten Paolo Fumagalli als «ein absolut eigenständiges Werk» bezeichnet. In einer Ausgabe der Zeitschrift Werk, Bauen + Wohnen mit dem Titel «Die 60er Jahre in der Schweiz» schrieb er 1989: «Es verkörpert […] eine rein funktionelle Architektur, deren Fassaden abwechselnd aus vollen und leeren Elementen zusammengesetzt sind, ohne besonderen formalen Nachdruck. Die Qualität liegt hier in der Kontrolle der verschiedenen Teile, in der Sorgfalt, die den einzelnen Wandelementen zugekommen ist, sowie in der grossen Auskragung des Gebäudes gegen den Fluss hin (bedingt durch den Ladevorgang des getrockneten Schlammes auf die Schiffe), die mit einer mächtigen Reihe von vorgespannten Überzügen realisiert worden ist, die parallel zusammen auf dem Dach liegen.»

Von der Besetzung zum Betrieb

Zur Sanierung des Gebäudes hat der Verein Porteous das Architekturbüro Sujets Objets hinzugezogen, das den Ort bestens kennt. Eines seiner Mitglieder, Thierry Buache, hatte 2017 seine Masterarbeit an der EPFL mit dem Titel La STEP d’Aïre: un nouveau lieu de création et de diffusion artistique à Genève verfasst. Das aktuelle Projekt knüpft an die Besetzung und die damit verbundenen Erfahrungen an. Die Architekten schreiben: «Die Umgestaltung des Porteous-Gebäudes ist Teil einer experimentellen und inkrementellen Methodik – einer Planung in Phasen, die sich durch eine kollektive und partizipative Entwicklung immerzu verändert. Der Projektprozess löst sich bewusst von standardisierten Planungsschemata, um die Nutzung, die Anwendung von Normen und die Instandhaltung des Bauwerks zu hinterfragen. Ein Vorgehen, das auf materiellen und immateriellen Ressourcen wie der Geschichte, Architektur und landschaftlichen Umgebung des Gebäudes gründet.»

Der erste Raum, der von September 2022 bis Frühling 2023 dank dem kollektiven Einsatz von Unternehmen und Mitgliedern und einer Finanzierung über die «Fondation pour la promotion des lieux pour la culture émergente» saniert wurde, illustriert diesen Ansatz. Das Chic & Shlag, das sowohl eine «Küchen-Hütte» als auch eine «Bau-Hütte» ist, wird es ermöglichen, das Projekt PORTEOUS direkt an seinem Standort voranzutreiben. Als Mehrzweckraum soll es zu Begegnungen, Diskussionen und Überlegungen zum künftigen Kulturzentrum anregen.

Christian Bischoff, architecte

Zeitschrift

Dieser Artikel ist am 27. August 2024 in der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine 3/2024 «Abwasserreinigung im Umbau» erschienen.

Porteous

Le samedi 14 septembre de 10h00 à 12h00, Patrimoine suisse Genève vous invite au vernissage du Clou rouge et à des visites guidées de la station d’épuration d’Aïre (in französischer Sprache).