Das Walliser Städtchen Saint-Maurice wurde 1693 durch einen Brand weitgehend zerstört. Seine historische Bausubstanz umfasst vor allem Bauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die teilweise auf älteren gewölbten Unterbauten ruhen. Im letzten Jahrhundert wurden viele von ihnen umgebaut oder neu errichtet. Der historische Kern erstreckt sich entlang der Grand-Rue, die bis in die 1960er-Jahre vom Durchgangsverkehr befahren wurde. Die Eröffnung der Avenue d'Agaune ermöglichte zwar eine Umleitung des Autoverkehrs, schnitt die Altstadt aber von der Abtei ab: dem ältesten noch bestehenden Kloster des christlichen Abendlandes.
Wie andere Kleinstädte bemüht sich auch Saint-Maurice, die Lebendigkeit des historischen Kerns zu bewahren. Um ein Spekulationsprojekt zu verhindern, kaufte die Gemeinde 2010 einen baufälligen Häuserblock zwischen der Grand-Rue, einem kleinen Platz an der Avenue d'Agaune und einer schmalen Seitengasse, der Ruelle des Petites-Fontaines. 2013 veranstaltete sie einen Wettbewerb auf Einladung, um in diesen Gebäuden eine Kunstgalerie, Künstlerateliers und Wohnungen einzurichten.
Das preisgekrönte Projekt des Büros GayMenzel architectes, das Altes und Neues auf spielerische Weise miteinander verbindet, wurde 2016 bis 2018 realisiert. Die drei Fassaden, die sich auf die Grand-Rue hin öffnen und im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) eingetragen sind, wurden sorgfältig restauriert, während der stark verfallene hintere Teil der Häuser auf der Seite der Avenue d'Agaune vollständig rekonstruiert wurde. Dazwischen stossen diese beiden Welten an der seitlichen Fassade aufeinander. Der hellgraue, fast weisse Kalkputz grenzt dort an gleichfarbigen rohen Beton, wobei die Betonfläche gegenüber der alten Mauer leicht zurückversetzt ist. Das Neue wirkt wie ein Negativabdruck des Alten, und vorspringende Elemente wie Fensterrahmen werden im neuen Teil als Vertiefungen behandelt. Ebenso ungewöhnlich ist die Verteilung von vollen und leeren Flächen. So wurde etwa im hinteren Teil der Kunstgalerie im Erdgeschoss eine übergrosse Glastür angebracht, die den Blick auf den kleinen Platz freigibt. In der grossen Betonfassade scheint diese überdimensionierte Öffnung fast zu nahe an der Gebäudeecke zu stehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass die vermeintliche Tür gar keine ist. Sie ist vielmehr ein Schaufenster, das einerseits Einblick in das Innere der Galerie gibt und zugleich – wie ein Zitat – die räumliche Beziehung zum Eingang der Abtei auf der gegenüberliegenden Seite der Avenue d'Agaune in Szene setzt.
Dieses Spiel mit Materialien und Formen, dem ein gewisser Manierismus innewohnt, setzt sich im Gebäudeinnern fort. Wo der Zustand es zuliess, wurde Altes erhalten und restauriert, anderswo durch Details, Wiederverwendung, Farben und Verweise betont. GayMenzel verwenden den Ausdruck «Imaginaire contextuel», um diese Verknüpfung von unterschiedlichen Elementen, Materialien und Atmosphären zu beschreiben, die ihre Arbeit prägt. So steht die Treppe, die zu den drei Wohnungen in den Obergeschossen führt, in einem überdachten Innenhof und erinnert mit ihrer freien Form an die prächtige barocke Treppe des Maison de la Pierre auf der anderen Seite der Grand-Rue.
Die formale Auflösung, die von GayMenzel vorgeschlagen wird, ist nie klassisch. Sie will Spannung erzeugen und den faszinierten Nutzer dazu bringen, sich Gedanken darüber zu machen, was er sieht. Wir alle kennen dieses Gefühl eines Duftes oder Geschmacks, der nicht sofort verführerisch wirkt, aber zu dem wir immer wieder zurückkehren. Catherine Gay Menzel und Götz Menzel gelingt es, dieses Gefühl in ihre Architektur zu übertragen.
Christian Bischoff, Architekt