Schweizer Landschaftsarchitektur im Aufwind: der Irchelpark in Zürich, ein von 1979 bis 1986 vom Team Atelier Stern & Partner und Eduard Neuenschwander ausgeführtes Beispiel eines naturnahen Landschaftsparks. (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz) Schweizer Landschaftsarchitektur im Aufwind: der Irchelpark in Zürich, ein von 1979 bis 1986 vom Team Atelier Stern & Partner und Eduard Neuenschwander ausgeführtes Beispiel eines naturnahen Landschaftsparks. (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz)
Schweizer Landschaftsarchitektur im Aufwind: der Irchelpark in Zürich, ein von 1979 bis 1986 vom Team Atelier Stern & Partner und Eduard Neuenschwander ausgeführtes Beispiel eines naturnahen Landschaftsparks. (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz)

Die nächste Generation Baudenkmäler

Das baukulturelle Erbe aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts wird bisher erst wenig beachtet. Die Zeitperiode ist noch nahezu unerforscht, ihre Bauzeugnisse befinden sich aber bereits mitten in einem Transformationsprozess und drohen teilweise sang- und klanglos zu verschwinden.

Regula Steinmann, Projektleiterin Baukultur, Schweizer Heimatschutz.
Artikel publiziert in der Ausgabe 3/2022 unserer Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine.

 

Im Jahr 1972 war in dieser Zeitschrift zu lesen: «Als vor mehr als einem Jahr der Jugendstil als etwas Erhaltungswürdiges gepriesen wurde, traute ich meinen Augen kaum. (...) Wenn ich im Heft noch ein einziges gutes Wort über den Jugendstil lese, gebe ich den Austritt; denn das ertrage ich nicht.» Die Opulenz der näheren Vergangenheit empfand man damals als störend und unzeitgemäss.

Mit der jüngeren Baukultur der Jahre 1975–2000 verhält es sich aus heutiger Perspektive ähnlich: Der Gedanke an die Bauten jener Zeit lässt viele von uns unbeeindruckt, vielleicht bleibt gar ein diffuses Unbehagen zurück – auch wenn, oder gerade weil die meisten diese Zeit direkt und alltäglich miterlebt haben. Sei es beiläufig in der Kindheit, mehr oder weniger bewusst in der Jugend oder sogar mitgestaltend im Berufsleben.

Die Wertschätzung für eine Epoche wächst mit deren bewussten Wahrnehmung und dem Verständnis für sie. Dafür braucht es zeitliche Distanz und die Aufarbeitung der gesellschaftlichen, politischen und baukulturellen Themen der Periode. Sowohl die Forschung als auch die Inventarisierung stehen hier noch am Anfang. Gleichzeitig befinden sich die baukulturellen Zeitzeugnisse aber bereits mitten in einem Transformationsprozess, werden umgebaut, energetisch ertüchtigt oder abgerissen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns mit dieser jungen Generation unseres Kulturerbes beschäftigen und ihre Werte erkennen.

Ingenieurschule Changins in Nyon (VD) von Heidi und Peter Wenger (1973–1975). (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz) Ingenieurschule Changins in Nyon (VD) von Heidi und Peter Wenger (1973–1975). (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz)
Ingenieurschule Changins in Nyon (VD) von Heidi und Peter Wenger (1973–1975). (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz)

 

Die Suche nach Antworten auf die Fragen der Zeit

Die Erdölkrise, der Atomunfall von Tschernobyl, die Entdeckung des Ozonlochs – die Zeit ab Mitte der 1970er-Jahre ist gesellschaftlich und politisch geprägt von Umweltfragen und stellt das unbändige Wachstum in allen Belangen in Frage. Die Grüne Partei und Greenpeace Schweiz werden gegründet, der Schweizer Heimatschutz richtet sich als Umweltverband aus und setzt sich fortan zukunftsgerichtet für eine harmonische Entwicklung des Landschafts- und Siedlungsbildes ein.

Den Planungsbüros blieb in den Boomjahren durch übervolle Auftragsbücher kaum Zeit zur Reflexion der eigenen Arbeit. Nun keimen vermehrt Fragen nach den Auswirkungen der Baukultur auf Mensch und Umwelt auf: Wie können Neubauten in den bestehenden landschaftlichen und städtebaulichen Kontext integriert werden? Wie ist der Umgang mit dem Freiraum? Wie entstehen Räume, die soziale Interaktionen zulassen? Welche Bedeutung haben historische Gebäude, und wie gehen wir mit ihnen um?

Die gestalterischen Antworten auf diese Fragen reichen von der Öko- bis hin zur Hightecharchitektur und von naturnah bis streng geometrisch gestalteten Freiräumen. Nachdem in der Wachstumsperiode viele Grossprojekte wie Spital-, Bildungs- und Infrastrukturbauten bereits umgesetzt worden sind, fallen die Aufgaben in der Zeit zwischen 1975 und 2000 eher kleiner aus und fordern einen höheren Qualitätsanspruch ein. Der Fokus liegt auf dem Einzelobjekt und seiner Einbettung in den historischen, städtebaulichen, landschaftlichen und sozialen Kontext. Denkmalgerechtes Renovieren und Weiterbauen wird zur architektonischen Disziplin.

Neue Baustoffe, die Etablierung von CAD-Programmen, die Institutionalisierung des Normenwesens und neue Gesetzgebungen verändern die Bau- und Planungsprozesse und das Selbstverständnis der Planungsbüros. Die zunehmende Komplexität führt zu einer Spezialisierung der Fachbereiche, die Planer werden von Generalisten zu Spezialisten. Die eigenständigen Disziplinen Architektur, Landschaftsarchitektur, Raumplanung und Ingenieurwesen arbeiten in Planungsteams eng zusammen.

Chiesa di San Giovanni Battista, Mogno (TI) von Mario Botta (1986) (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz) Chiesa di San Giovanni Battista, Mogno (TI) von Mario Botta (1986) (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz)
Chiesa di San Giovanni Battista, Mogno (TI) von Mario Botta (1986) (Foto Noah Santer, Schweizer Heimatschutz)

 

Hohe Qualität als gemeinsamer Nenner

Die Schweizer Architektur erfährt in der Periode zwischen 1975 und 2000 eine ausserordentliche, auch internationale Aufmerksamkeit. Schweizer Stararchitekten entwerfen ikonische Gebäude, die zu touristischen Attraktionen werden. Aber auch das anonymere architektonische Schaffen weist durch eine hohe Sorgfalt, grossen Material- und Detailreichtum und einen unbändigen Gestaltungswillen schweizweit aussergewöhnlich hohe Qualitäten auf. Stilistisch zeigen sich indes deutliche regionale Unterschiede, die von lokaler Bautradition oder von aktuellen Tendenzen im nahen Ausland beeinflusst sind.

Seit dem Beginn der 1970er-Jahre kann in der Schweiz ein Studium der Landschaftsarchitektur absolviert werden. Die neuen Studienangebote, aber auch die viel beachtete Gartenschau «Grün 80» zeugen vom Bedeutungsgewinn der Profession. Aufkommende ökologische Anliegen, die Hinwendung zur Landschaftsplanung und das Bedürfnis zur Erhöhung der Freiraumqualitäten im Siedlungsgebiet lassen ein neues berufliches Selbstverständnis wachsen. Die Schweizer Landschaftsarchitektur wird zum begehrten Exportgut, «Swiss Made» gilt als Qualitätsmerkmal für Parks und Plätze von Berlin bis London.

Die sichtbaren Mängel der hastigen Infrastrukturerstellung in den Boomjahren setzt im Ingenieurwesen ein Umdenken in Gang. Die qualitätsvolle Gestaltung, die Ästhetik und die Einpassung in die Landschaft werden zu neuen Themen und lassen die Ingenieurbaukunst, die Landschaftsarchitektur und die Architektur näher zusammenrücken. Das Streben nach Qualität ist es, was die verschiedenen Disziplinen zusammenhält.

Wohnhäuser Hammerstrasse Basel, von Diener & Diener Architekten (1978–1981) (Foto Janic Scheidegger, Schweizer Heimatschutz) Wohnhäuser Hammerstrasse Basel, von Diener & Diener Architekten (1978–1981) (Foto Janic Scheidegger, Schweizer Heimatschutz)
Wohnhäuser Hammerstrasse Basel, von Diener & Diener Architekten (1978–1981) (Foto Janic Scheidegger, Schweizer Heimatschutz)

 

Zukunft Bestand

Die heutigen gesellschaftlichen und politischen Themen sind mit den damaligen eng verknüpft – die Klimakrise und die Ressourcenknappheit sind akuter denn je. Eine der aktuell wichtigen Fragen lautet: Wie gehen wir mit der Ressource des baukulturellen Bestandes um?

Unter dem Deckmantel der Energieeffizienz müssen Gebäude aus der Periode zwischen 1975 und 2000 heute bereits Ersatzneubauten weichen – weit vor dem Erreichen ihres Lebenszyklus. Eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Bestand ist also nicht nur aus baukultureller Sicht sinnfällig, der Erhalt der gebundenen grauen Energie ist auch eine Massnahme zur Bewältigung der Klimakrise. Das Zusammenspiel einer sorgfältigen Abwägung der baukulturellen Werte und der Weg in eine neue, klimagerechte Umbaukultur braucht ein Umdenken und wird sowohl die Arbeit in den Planungsbüros als auch unser ästhetisches Empfinden in den nächsten Jahren stark verändern. Die junge Generation von Planenden geht heute bereits sehr bewusst mit der Ressource Gebäudebestand um.

Dass wir mit einiger Distanz und vertieftem Wissen eine andere Sicht auf eine vergangene Epoche entwickeln, führt uns das eingangs erwähnte Votum zum Jugendstil vor Augen. Mit einer bewusst sehr explorativ und diskursiv angelegten Kampagne zur Baukultur 1975–2000 will der Schweizer Heimatschutz einen Beitrag zum Verständnis und zur Wertschätzung einer äusserst reichhaltigen und qualitätsvollen Periode leisten und den fachlichen Diskurs unterstützen. Wir stehen dabei erst ganz am Anfang – und freuen uns auf die baukulturelle Entdeckungsreise durch die Jahre 1975 bis 2000!

Meilensteine

1972 «Grenzen des Wachstums», Club of Rome

1973 Erdölkrise; autofreie Sonntage

1975 Europäisches Denkmalschutzjahr

1976 Apple I – erster Personal Computer

1980 Inkrafttreten Raumplanungsgesetz

1982 Erstes AutoCAD (Computer-Aided Design)

1983 Erste drei Schweizer Kulturstätten ins Welterbe der UNESCO aufgenommen

1984 Gründung Greenpeace Schweiz

1985 Entdeckung Ozonloch, Inkrafttreten Umweltschutzgesetz

1986 Atomunfall Tschernobyl; Grossbrand Schweizerhalle

1987 Inkrafttreten Lärmschutzverordnung; Annahme der Rothenthurm-Initiative

1989 Fall der Berliner Mauer 1991    Auflösung Warschauer Pakt

1992 Nein zum EWR-Abkommen

1993 Freigabe World Wide Web; Inkrafttreten Vertrag von Maastricht (EU)

1994 Annahme der Alpenschutz-Initiative

1996 Schaf Dolly, erstes geklontes Säugetier

2002 Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens CH–EU

Lesen

Heimatschutz/Patrimoine 3/2022
Baukultur 1975–2000
Erschienen am 22. August 2022

Info

Baukultur von 1975 bis 2000: 
www.heimatschutz.ch/1975-2000