Text: Marco Guetg, Journalist
Fotos: Marion Nitsch, Fotografin
Was Kläranlagen mit Heimatschutz zu tun haben? Das haben wir uns auch gefragt, als die Architekten Lukas Stadelmann und Noël Picco vor einigen Monaten auf uns zukamen. Sie stellten uns ihre Studie über die Abwasserreinigungsanlagen (ARA) in der Schweiz vor und gewährten uns damit Einblick in ein ebenso spannendes wie aktuelles Thema, das sehr wohl mit unserer gebauten Heimat, mit Fragen der Denkmalpflege und auch mit der Nachhaltigkeit zu tun hat.
Noël Picco: Dieses Interesse tauchte erstmals während des Studiums an der ETH auf. Lukas Stadelmann befasste sich damals mit der Stadtversorgung, ich mich mit der Stadtentsorgung und somit mit Kläranlagen und Kehrichtverbrennung. Wir haben gemerkt, dass Kläranlagen mit ihrem radikalen Pragmatismus spannende Themen liefern: Sie liegen meist an einem schönen Ort, sind Zeichen eines funktionierenden Systems und gleichzeitig ein Abbild der Gesellschaft.
Lukas Stadelmann: Aus diesem radikalen Pragmatismus entsteht eine besondere Ästhetik. Staudämme oder Kraftwerke werden gelegentlich überstilisiert, Kläranlagen nicht. Sie sind ein reines Abbild der Schweizer Ingenieurkunst mit einem signifikanten Merkmal: Sie stehen möglichst dort, wo sie nicht stören.
Stadelmann: Schon bei unserer ersten Beschäftigung mit Kläranlagen haben wir festgestellt, dass diese sich verändern, neu genutzt werden oder verschwinden. Beeinflusst haben uns auch die Ereignisse rund um die ARA Werdhölzli in Zürich. Während alle über den Korruptionsskandal sprachen und wer dafür verantwortlich ist, interessierten uns andere Fragen: Wie kam es dazu, dass ein Becken in dieser ARA in einen Pool umgebaut wurde? Weshalb wurde dieses Becken plötzlich nicht mehr benutzt? Diese Veränderungen an diesem Ort führten zu weiteren Überlegungen rund um Kläranlagen, deren Umnutzung oder deren Verschwinden. Fragend rutschten wir in diese Forschungsarbeit.
Picco: Eher nicht, denn eine ARA steht am Schluss der Stadtplanung.
Stadelmann: Man schob die Kläranlagen zur Seite, wollte den Geruch möglichst von der Bevölkerung fernhalten. Doch wegen der zunehmenden Verdichtung und der Ausdehnung des Siedlungsraumes kommen die Kläranlagen jetzt zwangsläufig näher an die Menschen heran und werden so zum Thema. Das ist die eine Seite. Die andere ist die Nutzungsüberlagerung. Kläranlagen sind oft mehr als nur monofunktionale Infrastruktur.
Picco: Der Wirtschaftsaufschwung in den 1950er- und 1960er-Jahren führte gleichzeitig zu einer Verschlechterung der Gewässersituation. Erfindungen wie die Waschmaschine oder neue Waschmittel entlasteten die Hausarbeit, belasteten jedoch die Flüsse. Mitte der 1960er-Jahre wurde daher die Anzahl Kläranlagen massiv vergrössert, mit einer entsprechend neuen Reinigungsstufe. In den 1980er- und 1990er-Jahren wiederum drängte sich eine dritte Stufe auf. Der Grund: Die Überdüngung konnte noch nicht ausreichend eingedämmt werden, und neue, wirtschaftliche Methoden zur Phosphatabscheidung wurden eingeführt. Zurzeit stecken wir in der vierten Reinigungsstufe. Bei dieser geht es darum, die Abwässer unter anderem von Medikamentenresten, Pestiziden und Mikroplastik zu säubern. Über die Jahre hat auch der Wasserverbrauch zugenommen – aufgrund der Bevölkerungszunahme und dem Wandel der Lebensstile. Gelegentlich sind es aber auch rein biologische Vorkommnisse, die eine Optimierung verlangen. Zum Beispiel hat man festgestellt, dass Medikamentenreste im Wasser bei Fröschen und Fischen Fehlentwicklungen bewirken. Das musste korrigiert werden. Diese kurze Aufzählung macht deutlich: Die immer wieder dazu gebauten Module sind Teile der Erzählung.
Stadelmann: Ein sichtbares Zeichen der gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklung ist, dass Kläranlagen plötzlich auch in die Höhe wachsen, weil weitere Nutzungen dazukommen. Hier wird aus Schlacke Biogas gewonnen, werden über einer Anlage Solarpanels montiert…
Picco: … oder Phosphor gewonnen. Schliesslich ist das Abwasser einer ARA auch ein Indikator für die virale oder toxische «Verseuchung» der Gesellschaft. Während der Coronazeit liess sich über das Abwasser das Ausmass der Infizierung bestimmen. Die ARA Werdhölzli veröffentlicht nach der Street Parade jeweils die Kokainwerte im Abwasser. Der Ausschlag ist bemerkenswert.
Stadelmann: Klar. In der Schweiz gibt es etwas mehr als 700 Kläranlagen. Sie werden mehrheitlich von Gemeinden betrieben. Davon werden in naher Zukunft viele nicht mehr benützt, da aufgrund des technischen und finanziellen Aufwandes neue, zentrale Kläranlagen entstehen, bzw. einzelne ausgebaut werden. Damit wird die Frage relevant, was mit diesen alten und nicht mehr benutzten Anlagen geschehen soll. Darüber haben wir uns Gedanken gemacht. Während unserer Forschungsarbeit haben wir aber auch feststellen müssen, dass es keine Literatur zum Thema gibt, dass kaum etwas nachzulesen ist über den Zusammenhang von Abwasserreinigung, Natur- und Gewässerschutz und schon gar nicht darüber, wie man eine ARA-Brache neu nutzen könnte.
Picco: Eine Website ist in Arbeit und wird bald freigeschaltet. Wichtig ist für uns aber vor allem, gemeinsam mit interessierten Kreisen nach Lösungen über den Umgang mit Infrastrukturbauten zu suchen. Das ist mit ein Grund, weshalb wir den Schweizer Heimatschutz kontaktiert haben. Uns interessierte, ob Strategien vorhanden sind bezüglich des Umgangs mit historisch relevanten Infrastrukturbauten. Es geht nicht nur um den Bau einer ARA oder deren Umnutzung, sondern auch darum, das Bewusstsein zu schärfen, dass eine ARA durchaus eine kulturgeschichtliche Dimension hat und dementsprechend auch aus einer baukulturellen Optik betrachtet werden muss.
Stadelmann: Zurückgebaut werden Kläranlagen vor allem in kleineren Gemeinden, wo man oft nicht so recht weiss, was mit diesen Brachen zu tun ist. Daher wäre es wichtig, wenn ein Wissenspool geschaffen würde, an dem sich Ideensucher orientieren könnten. Unsere Forschungsarbeit ist ein Teil davon.
Picco: Darauf kann ich weder mit Ja noch mit Nein antworten, weil es zwei Sichtweisen gibt. Ist es die Kläranlage als Bau oder ist es das System der Kläranlagen und wie alles zusammenspielt, was den Denkmalwert ausmacht? Es gibt interessante Anlagen, bei denen Nach- und Umnutzungen bereits stattgefunden haben, die öffentlich zugänglich und somit zum Gemeingut wurden. Oder aber sie haben einen besonderen Ansatz oder liegen an einem reizvollen Ort. Alles das ist möglich. Unsere Sicht ist etwas enger: Wir betrachten Kläranlagen immer vom Netzwerk aus.
Stadelmann: Spannend wird es, wenn man alle Kläranlagen gesamthaft betrachtet und dabei ein parametrisches Muster im architektonischen Entwurf erkennt. Alle sind irgendwie gleich und doch stets kontextbezogen.
Picco: Die ARA Porteous in Genf zum Beispiel finde ich baukulturell sehr interessant, als Bau an sich, wegen seiner Geschichte und seiner heutigen Funktion. Nach der Stilllegung wurde sie von einer Genfer Kulturgruppe 2018 besetzt. Es folgten lange Verhandlungen. Jetzt entsteht dort ein Kulturort. Es liegt ein sensibler Entwurf des Büros Sujet Objet vor für einen neuen, sozio-kultureller Raum, der gekonnt mit den vorhanden Strukturen umgeht.
Stadelmann: Genauer angeschaut haben wir die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Luzern und Neuenburg. Dort werden rund zwei Drittel der bestehenden Anlagen zurückgebaut. Viele Gemeinden fragen sich, wie es weitergehen soll. Wir finden: Wenn etwas bereits gebaut ist, soll es nicht verschwinden, sondern umgenutzt werden – auch aus ökologischen Gründen. In diesen Betonbauten steckt viel graue Energie.
Picco: Selbst wenn es schweizweit von den rund 700 Anlagen nur 300 bis 400 sind, die verschwinden, ist das eine ganz ordentliche Bauaufgabe.
Picco: Es können sogar zwei Brachen sein: der ehemalige Bau und häufig auch ein von Wasserknappheit bedrohter Bach, weil das Quellwasser einer Gemeinde neu, nach dem Gebrauch in den Haushalten in die zentrale Anlage fliesst, und nicht mehr in die dezentrale Klein-ARA, die das gereinigte Abwasser in den Dorfbach gab. Daraus resultieren komplexe Umweltprobleme. Mit der neuen Reinigungsstufe an einem neuen Ort will man das Ökosystem schützen, läuft jedoch Gefahr, es gleichzeitig wieder zu belasten.
Picco: Viel! Spielplätze, Schwimmbecken, Begegnungsraum, Fischbecken, Energiespeicher, Kulturzentren, Vogelhabitate… – wenn man kreativ denkt, lässt sich an vielen Orten etwas Schönes machen. Eine gelungene Umnutzung fand in Oerlikon (ZH) statt, wo die Stadt nach und nach hin zur ARA wuchs. Jetzt stehen dort ein Spielplatz und ein Kreativzentrum.
Stadelmann: Oder die durch das Büro en dehors sehr schön gestaltete ARA Aproz in der Walliser Gemeinde Nendaz wiederum lädt Kinder zum Spiel, die ARA Attisholz, umgebaut durch MAVO, ist jetzt ein Freizeitpark. Der Ornithologenverband überlegt sich, in einer stillgelegten ARA ein Vogelhaus einzurichten. Viele dieser Umnutzungen sind das Resultat eines länger schon vorhandenen Bedürfnisses an einem bestimmten Ort. Das ist weiter nicht verwunderlich. Wer am Ort lebt, weiss, was man sich wünscht.
Picco: Nochmals zur ARA Werdhölzli in Zürich, wo Mitarbeitende Klärbecken in Natur- und Schwimmbecken umgewandelt haben. Diese Mitarbeitenden, denke ich, wussten wohl am besten, wofür vorher das Becken benutzt wurde und waren dennoch vorbehaltlos bereit, darin zu planschen. Grundsätzlich aber ist es eine Frage des Wertewandels. In einer Gemeinde muss man sich die Frage stellen, welchen Stellenwert die gebaute Infrastruktur hat, ob man sie in die Zukunft retten oder einfach immer etwas Neues bauen will.
Stadelmann: Die Kläranlagen sind zurückgekommen in den urbanen Raum. Sie haben künftig nicht nur eine, sondern mehrere Funktionen und sind ein ganz normaler Teil einer Stadt oder Region. Durch die verbreitete Anwendung des Schwammstadtprinzips verlagert sich künftig auch die Entwässerung von Strassen und Dächern näher in die Stadt und der Wasserkreislauf wird als gesamtes System in den urbanen Räumen erlebbar.
Picco: Meine Vision? Der Ort wurde angeeignet, weil man erkannt hat, dass diese Infrastrukturbauten das Fundament unserer Städte sind und man sie erlebbar gemacht hat.