Maria Lezzi, Interview Maria Lezzi, Interview
Dr. Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Foto: Marion Nitsch

«Für eine stimmige, lebenswerte Schweiz»

Gespräch mit Maria Lezzi

Text: Marco Guetg, Journalist
Fotos: Marion Nitsch, Fotografin

Der diesjährige Wakkerpreis des Schweizer Heimatschutzes geht an zehn Gemeinden aus zwei Kantonen, die im Verein Birsstadt grenzüberschreitend zusammen­arbeiten. Die Auszeichnung gibt uns Anlass, einen Blick auf die Situation der Raumplanung in der Schweiz und die Bedeutung des räumlichen Denkens über Gemeinde-, Kantons- und Landesgrenzen hinweg zu werfen. Welche Impulse für eine bessere Raumplanung gehen von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in verschiedenen Regionen der Schweiz aus – ob freiwillig oder «von oben» verordnet?

 

«Ausserordentlich erfreut» war Maria Lezzi, dass der Wakkerpreis 2024 an den Verein Birsstadt geht. Im Gespräch äussert sich die Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) über das Projekt Birsstadt und seine Bedeutung, über Verdichtung und Zersiedlung, nachhaltige Raumentwicklung und verrät ihren Traum vom Raum.
 

Angenommen, Sie wären Mitglied der Kommission für den Wakkerpreis: Mit welchen Argumenten hätten Sie für die Vergabe der diesjährigen Auszeichnung an den Verein Birsstadt plädiert?

Zehn Gemeinden und zwei Kantone entlang der Birs setzen ihre Idee einer lebenswerten Stadt konkret um, freiwillig und hartnäckig: Dieses Engagement verdient eine nationale Auszeichnung.

Maria Lezzi, Interview Maria Lezzi, Interview
Dr. Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Foto: Marion Nitsch

Wie nahe waren Sie an den Aktivitäten des Vereins Birsstadt?

Nahe. Einerseits lebe ich im Birstal, andererseits war ich bis zu meiner Wahl als Amtsdirektorin im Jahr 2009 Planungschefin des Kantons Basel-Stadt. In dieser Funktion habe ich viel mit den Nachbarn zusammengearbeitet und gemeinsam Antworten gesucht auf die Frage, wie wir die Agglomeration Basel weiter entwickeln können, insbesondere auch mit Frankreich und Deutschland. Dies betraf die klassischen Bereiche Siedlung, Mobilität und Landschaft. Mein Kollege des Kantons Basel-Landschaft setzte sich stark für die regionale Zusammenarbeit entlang der Birs ein. Ab Sommer 2009 habe ich das Modellvorhaben als ARE-Direktorin mitbegleitet.

Die Birsstadt kann als Synonym für die kantons- und gemeindeübergreifende Planung verstanden werden und ist in dieser Form ein Novum, oder?

In einigen Kantonen müssen Gemeinden in regionalen Planungsgruppen, den REPLA, zusammenarbeiten. In anderen Kantonen werden Täler als Einheit betrachtet, und die Gemeinden schliessen sich freiwillig für Planungsfragen oder Wirtschaftsförderung zusammen, so das Limmattal, das Aareland, das Hochrheintal. Die Birsstadt unterscheidet sich davon in zweierlei Hinsicht: Sie ist selbst gewählt, im Sinne von freiwillig, und versteht sich explizit als Stadt. Im Zentrum steht also die Idee eines gemeinsamen Raumes, verbunden mit dem Wunsch und dem beharrlichen, konkreten Bemühen, als Stadt einen attraktiven Lebensraum zu schaffen. Diese Form der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit dieser inhaltlichen Ausrichtung ist neu für die Schweiz.

Blickt man auf die Basler Agglomeration, drängt sich eine solche Zusammenarbeit geradezu auf.

Ja, wenn jede Gemeinde für sich alle ausgeschiedenen Wohn-, Gewerbe- und Industriegebiete bebauen würde, kollabierte das Verkehrssystem oder die Freiräume würden übernutzt. Gerade die Birs ist als frei zugänglicher Raum sehr wichtig. Das haben die Birstaler Gemeinden vor rund 15 Jahren erkannt. Über das Thema Landschaft nahm die Idee Birsstadt Gestalt an. Nicht zuletzt mit dem Ziel, einen Mehrwert für die Menschen zu schaffen.

Maria Lezzi, Interview Maria Lezzi, Interview
Dr. Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE), beim Kraftwerk Dornach an der Birs. Foto: Marion Nitsch

Beim Wakkerpreis hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Wurden einst gut erhaltene Ortsbilder ausgezeichnet, spielen heute neben dem Ortsbild auch planerische Aspekte eine Rolle. Das muss Sie als ARE-Chefin freuen.

Klar, und gleichzeitig fasziniert es mich, wenn es nicht nur eine Planungsidee ist, sondern umgesetzt worden ist. Das ist bei der Birsstadt ebenso offensichtlich wie beim Wakkerpreis 2023 für Lichtensteig im Kanton St. Gallen oder 2022 für die Genfer Agglogemeinde Meyrin.

Sie sind seit 2009 Direktorin des Bundesamtes für Raumentwicklung ARE. Was trafen Sie bei Amtsantritt an?

Der Entwurf für ein neues Raumplanungsgesetz, das sogenannte Raumentwicklungsgesetz, war kurz vorher in der Vernehmlassung bachab geschickt worden. Ein Scherbenhaufen. Wir konzentrierten uns dann auf die Siedlungsentwicklung und formulierten – zusammen mit den Kantonen – die erste Teilrevision des Raumplanungsgesetztes (RPG 1). Sie wurde zum indirekten Gegenvorschlag und nahm die Anliegen der 2008 eingereichten Landschaftsinitiative auf, die bekanntlich die Kulturlandschaft vor der Zersiedlung schützen soll.

Und was beschäftigt Sie heute?

Die Zersiedelung der Landschaft konnte durch RPG 1 stark eingedämmt werden. Gesellschaftliche Fragen sind in den Vordergrund gerückt. Ausserdem stellen sich Fragen der Energieknappheit oder des Klimawandels heute in einer Art und Geschwindigkeit, die wir uns vor wenigen Jahren noch nicht vorstellen konnten. Wo haben wir Raum, um erneuerbare Energie zu produzieren? Wie viel Fläche muss für Hochwasserereignisse ausgeschieden werden? Wie müssen urbane Räume gestaltet werden, um die Hitze erträglicher zu machen? Richtpläne müssen überprüft, Verfahren beschleunigt werden… In all diesen Bereichen schaffen wir auch Grundlagen, beraten und unterstützen Kantone und Gemeinden, unter anderem mit unseren Modellvorhaben.

Maria Lezzi, Interview Maria Lezzi, Interview
Dr. Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Foto: Marion Nitsch

Wie erleben Sie als Raumplanerin des Bundes die föderale Struktur in der Schweiz? Ist sie ein Segen oder ein Fluch?

Der Föderalismus gehört zur Schweiz. Punkt. Was auf allen Ebenen oft erwünscht und geschätzt wird, ist eine Orientierung oder ein Mitdenken durch den Bund. Deshalb haben wir 2012 das tripartite Raumkonzept zusammen mit Kantonen, Städten und Gemeinden verabschiedet. Damit wir auch neue Herausforderungen wie Klimawandel oder Energiekrisen besser bewältigen können, sind wir mitten in seiner Aktualisierung. Wir als Bund wollen durchaus Vorbild sein. Zudem beraten, motivieren oder unterstützen wir mit Beiträgen gewisse Projekte und hoffen, dass das Resultat hier und dort den Ehrgeiz weckt, Gleiches zu tun. Und wir können anmahnen, in spezifischen Fällen gar nicht genehmigen. Falls nötig und verhältnismässig. Was nicht geht, ist ein Diktat aus Bern. Gerade in der Raumplanung wissen wir: Gegen den Widerstand der Kantone läuft nichts. Letztlich ist’s auch hier ein Miteinander, bei dem jeder seine Verantwortung wahrnimmt.

2002 hat Ihr Amt das Projekt «Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung» lanciert. Worum geht es?

Diese Modellvorhaben sind Testräume oder Reallabore. Damit fördert der Bund innovative Ansätze und Methoden. Lokale, regionale und kantonale Akteure werden angeregt und unterstützt, Lösungsideen in den vom Bund festgelegten Schwerpunkten zu entwickeln und vor Ort zu erproben. Das Erreichte und das Gelernte soll verankert werden und als Vorbild für andere Vorhaben oder andere Gemeinden dienen. In diesem Sinne ist die Birsstadt ein erfolgreiches Modell-vorhaben. Der Boden ist bereitet, jetzt braucht es Nachahmer. In Modellvorhaben steckt die stille Aufforderung: Geht hin und schaut, wo es klappt.

Für den Zeitraum 2020 bis 2024 wurden 31 Projekte ausgewählt. Welches sind die Themen?

Das ARE und 7 weitere Bundesämter unterstützen 31 Projekte mit rund 3.9 Millionen Franken in den folgenden fünf Themenschwerpunkten: Nutzung der Digitalisierung für die Grundversorgung; Förderung integraler Entwicklungsstrategien; Mehrwert Landschaft; Siedlungen, die kurzen Wege, Bewegung und Begegnung fördern; demografischer Wandel: Wohn- und Lebensraum für morgen.

Maria Lezzi, Interview Maria Lezzi, Interview
Dr. Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE). Foto: Marion Nitsch

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Château-d’Oex im Kanton Waadt will seine Voralpenregion als attraktiven Wohnraum und Touristenziel für Seniorinnen und Senioren positionieren. Mit einem innovativen und partizipativen Ansatz schafft die Gemeinde altersgerechte Strukturen, die ihren finanziellen Möglichkeiten entsprachen. Ich lade herzlich ein, auf unserer Website in die anderen Projekte einzutauchen. Im Sommer werden wir die Schlussergebnisse dieser Generation von Modellvorhaben öffentlich zugänglich machen.

Vor zehn Jahren wurde die Revision des Raumplanungsgesetzes angenommen. Genügt es noch, oder muss ein wenig justiert werden?

Nicht justieren, sondern vollziehen. Mittlerweile haben alle Kantone ihre Richtpläne angepasst. Und der Bundesrat hat sie genehmigt. Die Knochenarbeit liegt nun bei den Gemeinden. Sie müssen die Vorgaben in ihren Zonenplänen umsetzen. Wir wollen dort aufstocken oder neu bauen, wo schon Gebäude stehen und die Verkehrserschliessung vorhanden ist. Die Mobilisierung des Baulandes und der inneren Nutzungsreserven erfordert das Engagement der Gemeinden.

Wo harzt es?

Innenentwicklung ist anspruchsvoll. Wer im bestehenden Siedlungsgebiet bauen will, muss mit Hindernissen rechnen. Wir sind daran, die Art und Weise von Einsprachen beziehungsweise Beschwerden und deren Wirkung auf den Baubewilligungsprozess zu analysieren. Es ist auch gut möglich, dass gewisse Baureglemente nicht mehr up to date sind, und noch immer vom Bauen auf der grünen Wiese ausgegangen wird und das Bauen im Bestand kein Thema ist. Grundsätzlich haben wir ein grosses Interesse an einer Beschleunigung der Verfahren – aber bitte, ohne Abstriche an der Qualität der Projekte zu machen oder die Mitsprache sowie den Rechtsschutz materiell einzuschränken.

Verdichten ist das Schlagwort der Stunde. Verdichten heisst aber auch, dass preisgünstiger Wohnraum teurer wird.

Nicht unbedingt. Wir überlegen beispielsweise, ob bei einer Aufstockung oder Erweiterung eines bestehenden Gebäudes unbedingt alle neuesten Standards und Normen eingehalten werden müssen. Ich denke unter anderem an Sanitäranlagen oder Beleuchtung. Grundsätzlich sollte man darüber nachdenken, wie man an bestimmten Orten oder Objekten einfacher und somit kostengünstiger bauen kann. Die Antwort darauf könnte dann auch eine Option im Umgang mit denkmalgeschützten Bauten sein. Wenn dort alles nach Norm und neuestem technische Standard gemacht wird, besteht Gefahr, dass gar nichts gemacht wird, weil der Eingriff in die Substanz zu gross wäre.

Maria Lezzi, Interview Maria Lezzi, Interview
Birs, Dornach. Foto: Marion Nitsch

Eine andere Entwicklung muss Raumplaner sorgen: Pro Person wird immer mehr Wohnraum belegt. Was kann man dagegen tun?

Ich habe Mühe mit der Vorstellung, dass der Staat die Wohnflächen von uns allen steuert. Würde man dies machen wollen, kämen theoretisch gesetzliche Regulierungen oder ökonomische Massnahmen, wie Steuern oder Anreize, in Betracht. Aber politisch sind sie in der Schweiz schlicht nicht mehrheitsfähig. Wir müssen vielmehr erklären und besser überzeugen: Ein nachhaltiges Leben ist ein leichteres Leben. Es bringt persönlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Gewinn. Andererseits haben wir in letzter Zeit festgestellt, dass die Haushalte wegen der höheren Kosten tendenziell wieder etwas grösser geworden sind und damit weniger Wohnfläche pro Kopf verbrauchen. Rein statistisch zeigt sich, dass ökonomische Faktoren das Verhalten der Menschen beeinflussen. Soziale Fragen wie die Bezahlbarkeit von Wohnraum oder Verdrängungen sind damit aber nicht automatisch gelöst.

In einem Interview haben Sie 2012 gesagt, die aktuelle Baulandreserve in der Schweiz Platz böte für 2.1 Millionen zusätzliche Bewohnerinnen und Bewohner. Wie viel Reserve haben wir heute noch?

Gemäss unserer Bauzonenstatistik bieten die unüberbauten Bauzonen theoretisch Platz für weitere 0.9 bis 1.6 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Ein Teil dieser Flächen befindet sich aber noch nicht dort, wo sie raumplanerisch sinnvoll und in den kantonalen Richtplänen festgesetzt sind. Es braucht noch einige Rückzonungen oder Umlagerungen von Zonen. Dies ist nun Aufgabe der Gemeinden im Rahmen der laufenden Zonenplanrevisionen. Übrigens: Die ETH Zürich hat 2017 eine Potenzialabschätzung durchgeführt und auch die inneren Nutzungsreserven in bereits bebauten Bauzonen berücksichtigt. Ein Beispiel: Wenn heute beispielsweise in einer Wohnzone 4 ein eingeschossiges Haus steht, könnten ohne Zonenplanänderung drei weitere Geschosse, meist mit Attika, gebaut werden. Rechnet man alle diese Reserven zusammen, würde es Platz für weitere 700'000 bis 1'400'000 Menschen geben. Das Resultat: Es entstünde viel mehr Wohnraum, ohne dass zusätzlich Bauland verwendet werden müsste.

Das Wesen der schweizerischen Siedlungsentwicklung ist geprägt von kantonalen und kommunalen Zuständigkeiten. Wenn Sie die Macht hätten, die Sie nicht haben: Wie sieht Ihr Traum vom Raum aus?

Eine attraktive Schweiz ist für mich eine Schweiz, in der wir vom Wohn- oder Arbeitsort in einer Viertelstunde im Grünen sind und die wirtschaftlich prosperiert. Eine solche Schweiz verändert sich ständig und ist vor allem fit für Veränderungen wie die Klimaerwärmung. Sie soll auch in 20 Jahren noch ein Ort sein, an dem wir es aushalten. Ein Ort, wo wir uns wohlfühlen und für den wir uns heute und morgen engagieren. Der Raum in meinem Traum ist nicht uniform. Die Schweiz ist vielfältig und produziert den grössten Teil der Energie selbst. Eine solche Schweiz, die über alle Gemeinde-, Kantons- und Landesgrenzen hinweg zusammenarbeitet: Das gehört zu meinem erträumten Bild einer stimmigen, lebenswerten Schweiz.

Lesen

Heimatschutz/Patrimoine 2/2024: Raumplanung ohne Grenzen