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Der Bauingenieur Jürg Conzett vor einem seiner jüngeren Werke, der Rad- und Fussgängerbrücke «Pardisla» (2016/2017), die Chur und Haldenstein (GR) verbindet. Foto: Marion Nitsch

«Das Ingenieurwesen steckte in einer Sackgasse»

Im Gespräch mit Jürg Conzett

Text: Marco Guetg, Journalist
Fotos: Marion Nitsch, Fotografin

Der Fokus der Ausgabe 4/2023 der Zeitschrift Heimatschutz/Patrimoine beleuchtet die Baukultur der Jahre 1975 bis 2000 aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen wie Architektur, Denkmalpflege, Landschaftsarchitektur oder Bauingenieurwesen. Anlass ist die neue Publikation «Die schönsten Bauten 1975–2000». 

 

Jürg Conzett ist Mitinhaber des Ingenieurbüros Conzett Bronzini Partner in Chur. Er zählt zu den wichtigsten Brückenbauern der Schweiz, hat aber auch im Stras­sen- und im Hochbau Akzente gesetzt. Im Gespräch blicken wir zurück: auf sein Werden zum und sein Denken als Bauingenieur – und auf Bauten aus den Jahren 1975 bis 2000.
 

Herr Conzett, Sie haben von 1975 bis 1977 an der EPF in Lausanne und danach bis 1980 an der ETH in Zürich Bauingenieurwesen studiert. Wie war das Studium?

Handwerklich war es eine hervorragende Ausbildung. Wir haben die klassischen Fächer wie etwa Statik und Darstellende Geometrie intensiv studiert und geübt. Dafür bin ich noch heute dankbar. Das Studium war gleichzeitig aber auch ein eng abgestecktes Feld. Wir wurden zu Ausführenden ausgebildet. Was zu tun war, bestimmten andere. Ich habe schon früh gespürt, dass mir etwas fehlt.

Können Sie das konkretisieren?

Am besten mit einem Beispiel. Uns wurde als Aufgabe ein Hochhaus an einem Seeufer mit stark unterschiedlichen Baugrundverhältnissen gestellt. Statt statische Berechnungen vorzunehmen, stellte ich die grundsätzliche Frage, ob es nicht intelligenter wäre, an diesem Ort kein Hochhaus zu bauen.Und die Reaktion? Ungläubiges Lachen. Solches Hinterfragen begleitet mich durch mein Berufsleben. Denn ich bin überzeugt, dass man erst dann bauen darf, wenn im Voraus möglichst alle Fragen gestellt worden sind.

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Im Gespräch mit Jürg Conzett. Foto: Marion Nitsch

An der ETH in Zürich haben Sie beim «Brücken-Guru» Christian Menn studiert. Hat er diese Lücke nicht ausgefüllt?

Weniger durch seine Lehre als durch sein Bauen. Menn war ein kreativer Mensch – sein Felsenauviadukt in Bern (1975), seine Ganterbrücke am Simplon (1980) oder seine Bogenbrücken der A 13 entlang sind Meisterleistungen! – und hat selbst unter diesem fehlenden Blick aufs Ganze gelitten.

Wie würden Sie das Bild des Ingenieurwesens der 1970er-Jahre charakterisieren?

Sparsame, solide technische Arbeit mit begrenzten Mitteln, nicht extravagant… Alles Charakteristika, die auch generell den Zeitraum zwischen 1975 und 2000 prägen. Gleichzeitig weiss ich heute, dass ich während meines Studiums die letzten Momente des traditionellen Ingenieurbildes erlebt habe.

Welcher Bau dient als Beispiel für dieses «traditionelle Bild»?

Die Sihlhochstrasse in Zürich, gebaut zwischen 1969 und 1973. Sie manifestiert stark den Geist der 1970er-Jahre, als der Fokus auf den Verkehr gerichtet wurde und weniger auf das, was ein solcher Bau städteplanerisch sowie sozial auslösen könnte. Als Brücke jedoch ist die Sihlhochstrasse eine elegante Konstruktion, ein erstrangiges Baudenkmal. Wenn ich heute das belebte Gebiet rund um die Sihlcity betrachte und sehe, wie dort Menschen über Mittag im Schatten eben dieser Brücke sitzen, deutet das auf eine gewisse Gelassenheit gegenüber diesem einst heftig diskutierten Bauwerk.

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Im Gespräch mit Jürg Conzett. Foto: Marion Nitsch

Plötzlich wurde dieser traditionelle Geist überwunden. Womit lässt sich der Wendepunkt illustrieren?

Mit Santiago Calatravas Bahnhof Stadelhofen aus den 1980er-Jahren. Plötzlich wehte ein ganz anderer Geist. Calatrava betonte das Formale, setzte auf Opulenz, Expressivität, skulpturales Denken, organische Analogien bis hin zu einem gewissen Populismus.

Erheben Sie auch dieses Gegenstück zum Baudenkmal?

Unbedingt! In den 1970er- und 1980er-Jahren steckte das Ingenieurwesen mit seiner traditionellen Einstellung in einer Sackgasse. Diese extravagante Haltung wies plötzlich in eine neue Richtung und setzte Massstäbe.

Wo stehen wir heute?

Irgendwo zwischen dem Solid-Spartanischen und der Opulenz – wobei man heute beim Bauen glücklicherweise die Nachhaltigkeit und das Umfeld viel stärker berücksichtigt. Die Aufgaben sind in der Regel komplexer geworden. Als Brückenbauer befasst man sich heute stärker mit dem Befinden der Nutzerinnen und Nutzer, aber auch mit Vogelflug und Laichzeiten.

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Im Gespräch mit Jürg Conzett. Foto: Marion Nitsch

Nach Ihrem Studium klopften Sie 1981 bei Peter Zumthor an. Aus einem Praktikum wurde eine sechsjährige Festanstellung. Was haben Sie bei Zumthor gefunden?

Was ich seit dem Studium gesucht hatte! Als Student las ich gerne Architekturzeitschriften, weil dort Themen angeschlagen wurden, die ich auch als Ingenieur wichtig fand. Der Architekt Peter Zumthor ist ein scharfer Denker, der sehr systematisch vorgeht, über Siedlungsstrukturen und Materialien nachdenkt, den historischen Kontext berücksichtigt und stets Grundsatzfragen wie «Was wollen wir?» oder «Geht es auch anders?» auslotet. Bei Zumthor fühlte ich mich verstanden.

Wie muss man sich die Arbeit des Bauingenieurs Conzett im Büro Zumthor vorstellen?

Sie war offen. Zumthor hatte 1978 den Wettbewerb für die Erweiterung der Kreisschule in Churwalden gewonnen, seinen ersten, grösseren öffentlichen Bau. Mein erster Auftrag bestand darin, zuhanden der Gemeindeversammlung eine Innenperspektive zu zeichnen, was ich aufgrund meiner Ausbildung und meiner Lust am Zeichnen gut konnte. Später entwickelte ich grundsätzliche Vorschläge zu den Tragkonstruktionen als Diskussionsgrundlage mit den externen Ingenieuren. Rechnen musste ich nicht, wichtiger war es, Ideen zu entwickeln. Ein Resultat davon ist das Dach der Turnhalle mit seinen Längsträgern. Die auf den ersten Blick paradoxe Tragrichtung bot in der Gesamtschau wesentliche Vorteile, ähnliches hatten vor zweihundert Jahren auch die Brüder Grubenmann gemacht. Plötzlich wurde ich zum Entwurfspartner eines Architekten. Den Begriff «Entwurf» habe ich übrigens während meines gesamten Ingenieurstudiums nie gehört.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie eine Brücke «entwerfen»?

Die erste Handlung: an den Ort gehen, schauen und wenn möglich selbst vermessen. Dabei entdecke ich oft Kleinigkeiten, die für das Ganze wichtig sein können, etwas, das auf frühere Bauten am Ort weist oder auf ein Material, das etwas über die Gesteine in der Gegend verrät. Wichtig ist es, die Topografie kennenzulernen, sowie die Meinung der Geologen, der Wasserbauer wie auch jene der Botaniker zu hören. So formt sich allmählich ein Bild des Ortes bis hin zur Grundsatzfrage, ob die geplante Brücke überhaupt am richtigen Ort steht.

Wenn alle diese Fragen geklärt sind, kommt der Gestalter ins Spiel?

Ich sehe mich weniger als Gestalter, eher als Denker, der auf das reagiert, was er gesehen oder erkundet hat. Entwirft man eine Brücke, sucht man nach einem konzeptionellen Grundgedanken, nach einem klärenden Satz, der alle Fragen beantwortet. Ich habe diesen Prozess einmal mit dem Vorgehen eines Meisterdetektivs verglichen. Er kann nicht jedes Problem nacheinander einzeln lösen. In Kenntnis aller vorhandenen Indizien erfindet ein Sherlock Holmes eine Geschichte und kontrolliert, ob sie passt. So sehe ich auch unsere Arbeit: als Versuch, eine Idee zu entwickeln, die die vorgängig formulierten Anforderungen abdeckt.

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Im Gespräch mit Jürg Conzett. Foto: Marion Nitsch

Kehren wir zurück zu den grossen Infrastrukturbauten …

Ich würde den Blick eher auf die kleineren Infrastrukturbauten richten, auf Über- und Unterführungen oder Stützmauern. In den 1970er-Jahren fehlten für solche Projekte jegliche Konventionen. So entstanden – und entstehen immer noch! – leider oft schlecht ausgeführte Arbeiten.

Ich höre Kritik: diese kleinere Bauten sind für Bauingenieure nicht so interessant und somit bemühen sie sich auch nicht um gute Gestaltung?

Richtig. Das Stützmäuerchen ist zu kurz? Kein Problem: wir legen einfach ein paar Steine davor. Auf solchen lieblosen Umgang stösst man leider viel zu oft. Dabei handelt es sich um die häufigste Ingenieur-Aufgabe überhaupt.

Ihr Vorschlag?

1992 habe ich als Vorstandsmitglied des Bündner Heimatschutzes eine Tagung über die Gestaltung von Stützmauern initiiert. Ich wollte zeigen, wie beispielsweise die Julier- oder die Lukmanierstrasse mit grosser Sorgfalt in die Landschaft gesetzt worden sind, wie einst Mauern als Begleitbauwerke bewusst gestaltet wurden. Im Anschluss an diese Tagung hat mich der damalige Leiter Kunstbauten beim Kanton Graubünden, Heinrich Figi, gebeten, ein Mauerkonzept für die Strecke von Thusis nach Tiefencastel zu entwerfen. Unser Büro machte eine Bestandesaufnahme und bewertete das Gesichtete. Daraus entstand ein Konzept, das seit den späten 1990er-Jahren konsequent umgesetzt wird. Die Strecke über den Ofenpass ist sichtbar geprägt davon. Dieses Mauerkonzept ist für mich ein schönes Beispiel, wie man mit einem unspektakulären Ansatz eine grosse ästhetische Wirkung erzielen kann.

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Im Gespräch mit Jürg Conzett. Foto: Marion Nitsch

Sie gestalteten 2010 an der Biennale in Venedig den Schweizer Pavillon mit und zeigten eine fotografische Dokumentation von Brücken als Kulturbauten. Sie wollten damit das Bewusstsein für die Leistungen der Ingenieurkunst stärken. 13 Jahre sind vergangen. Hat’s was gebracht?

Auf jeden Fall! Es gibt heute mehr Wettbewerbe für Brücken als vor 2000. Ein persönliches Anliegen ist dabei, dass keine Renderings mehr präsentiert werden, sondern physische Modelle. Das wurde in vielen Fällen aufgenommen. Die SBB haben eine Gestaltungsfibel für Brücken erstellt, bei der es nicht um die grossen Aufgaben geht, sondern um kleinere Konstruktionen, die oft unter die Räder geraten.

Architekten ziehen heute bereits in der Entwurfsphase häufig einen Ingenieur bei. Funktioniert das auch umgekehrt?

In dieser Hinsicht hat sich in der Schweiz in den letzten Jahren eine lebendige Szene entwickelt. Brückenbau zum Beispiel geschieht im Team. Architekten denken mit, Landschaftsarchitektinnen, Künstler…

Gebäude aus der Zeit zwischen 1975 und 2000 müssen gelegentlich saniert werden. Kennen Sie ein exemplarisches Beispiel?

Das Eisstadion in Davos mit seiner eindrücklichen Holzkonstruktion, 1979 von Ingenieur Walter Bieler und Krähenbühl Architekten erstellt, musste vor einigen Jahren den neuen Anforderungen angepasst und in einzelnen Teilen von Ergänzungen gesäubert und konstruktiv ertüchtigt werden. Diese Arbeiten wurden aufgrund eines Wettbewerbs an Marques Architekten und unser Büro vergeben. Die notwendigen Eingriffe zeugen von grossem Respekt vor dem Bestand.

Gelegentlich geht es bei bestehenden Bauten vor allem um eine Umnutzung.

Dieser Anspruch nimmt zu. Ich denke an ein Bauwerk, das für eine ganz spezifische Sache gebaut worden ist und nun den Ansprüchen nicht mehr genügt, zum Beispiel ein Bettenhaus in einem Spital. Bei solchen Objekten stellt sich dann schon die Frage, was mit ihnen getan werden kann, ohne alles total zu verändern. Meist finden sich mit wenigen Anpassungen originelle, zukunftsgerichtete Lösungen, doch in einzelnen Fällen muss man contre-coeur einem Abbruch mit Neubau zustimmen. Wichtig scheint mir, nicht reflexhaft zu reagieren. Stattdessen gilt es, umfassend sämtliche Möglichkeiten zu erkunden und ihre Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abzuwägen, wobei ein Wert wie Kontinuität mit all seinen Facetten eine grosse Bedeutung haben soll.

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Im Gespräch mit Jürg Conzett. Foto: Marion Nitsch

Wie sollte die Haltung der Ingenieurinnen und Ingenieure sein? Sie könnten sich auf den Standpunkt stellen: Entwerft etwas und wir schauen, dass es hält.

Diese Haltung ist heute überholt. Es spielen zu viele Faktoren mit, als dass sich Ingenieure im Planungs- und Bauprozess ausklinken dürften. Ich denke an gesellschaftliche Anforderungen, an den Umgang mit Ressourcen, an die Denkmalpflege sowie auch an die immer noch gültige Forderung, mit wenigen Mitteln viel zu erreichen. In all diesen Bereichen können und müssen vernetzt denkende Ingenieure ihren Beitrag leisten.

Würden Sie zum Schluss noch zwei prägende Bauwerke aus der Zeit zwischen 1975 und 2000 erwähnen und erläutern?

Für mich wichtig ist das Volta-Schulhaus in Basel der Architekten Miller & Maranta, an dem ich als Ingenieur mitgearbeitet habe. Es steht auf einer alten Tankanlage. Dort wurde die Turnhalle hineingebaut und das Schulhaus draufgesetzt. Einerseits ist das eine platzsparende Lösung, andererseits ist es auch der Versuch, ein Schulhaus trotz grossen Spannweiten weder mit Stützen noch mit Unterzügen und somit als pure Konstruktion aus den ohnehin nötigen Wänden und Decken zu bauen. Das Volta-Schulhaus ist eine Synthese zwischen Architektur und Ingenieurkunst, die zeigt, wie man etwas Bestehendes intelligent umnutzen kann. Und weiter ist die Holzbrücke in Murau (Steiermark), an der die Architekten Marcel Meili, Markus Peter und ich aufs Intensivste zusammengearbeitet haben, ein exemplarisches Beispiel für eine sich gegenseitig befruchtende Diskus­sion zwischen den Disziplinen.

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Heimatschutz/Patrimoine 4/2023: Die neue Generation Baudenkmäler

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Neue Publikation: «Die schönsten Bauten 1975–2000»

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Baukultur 1975–2000