Raimund Rodewald Raimund Rodewald
Raimund Rodewald unterwegs auf dem Guyer-Zeller-Wanderweg bei Bäretswil im Zürcher Oberland.

«Auch die Landschaft braucht Anwälte»

Gespräch mit Raimund Rodewald

Text: Marco Guetg, Journalist
Fotos: Marion Nitsch, Fotografin

Geht es um Landschaftsschutz, kommt niemand an ihm vorbei: Raimund Rodewald, seit 1992 Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL). Nun geht der gebürtige Schaffhauser in Pension. Gelegenheit für einen Rückblick: auf sein Werden und seine Werte und seinen Kampf für Natur und Umwelt.

Herr Rodewald, sie sind promovierter Biologe, hätten einst auch in die Forschung oder Lehre gehen können und wurden schliesslich Landschaftsschützer. Gibt es einen Knackpunkt in Ihrem Leben?

Eigentlich nicht. Ich bin «Grzimekianer». Als Kind habe ich die Enzyklopädie des Tierreichs von Bernhard Grzimeks mit der Schreibmaschine abgeschrieben. Seine Serengeti darf nicht sterben war für mich wegweisend, ich habe tagelang in Brehms Tierleben geblättert, während meine Gspänli Sport trieben oder ein Instrument spielten. Ich wollte immer Tierforscher werden und studierte nach der Matura an der Uni Zürich Biologie mit der Absicht, eine ökologisch-zoologische Arbeit zu schreiben. Als ich erkannte, dass dies vom methodischen Ansatz her schlicht zu aufwendig war, wechselte ich in die Botanik. Unter den Fittichen der hart-näckigen Professorin Dora Rast hat sich dort nach und nach meine Leidenschaft für die Naturschutzpolitik entwickelt. Ich habe mich in der Lokalpolitik engagiert, habe für Pro Natura Schaffhausen ein floristisches Inventar erstellt, für den WWF eine Jugendgruppe aufgebaut und habe auch zehn Jahre am Lokalradio Munot eine Ökosendung bestritten …

Was verstehen Sie unter Landschaft?

Bei meiner Bewerbung als Geschäftsleiter der SL in den frühen 90er-Jahren hatte ich noch keine Ahnung, was Landschaft ist. Als mein Vorgänger Hans Weiss beim Reden über Landschaft von Raumplanung sprach, konnte ich mir davon kein rechtes Bild machen. Nach und nach habe ich gemerkt, dass auch die Landschaft – analog zu den Tieren – ein «Wesen» ist, das sich selbst nicht wehren kann und daher Anwälte braucht. Über Lektüre wuchs das Bewusstsein, dass Landschaft etwas mit unserem Handeln zu tun hat, dass Landschaft ein
Ort ist, der Tiere wie Pflanzen leben lässt und die Beziehung zwischen Mensch und Natur widerspiegelt. Besonders das Kulturell-Ästhetische hat mich immer stärker fasziniert, aber auch zur Einsicht gebracht, dass man Landschaft nie ganz fassen kann. Wer sich mit Landschaft befasst, ist immer ein Lernender.

Ist es diese existenzielle Erfahrung, die Ihnen über all die Jahre für Ihren unermüdlichen Einsatz für die Landschaft die Energie geliefert hat?

Ich kann mich nur wiederholen: «Serengeti darf nicht sterben!», Das heisst für mich auch, die Welt darf wegen uns Menschen nicht sterben. Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich bei mir ein Gerechtigkeitssinn, der über all die Jahre mein Handeln bestimmt hat.

Wer sich derart einsetzt, setzt sich auch aus. Wie haben Sie all die An-griffe weggesteckt?

Schlecht! Ich bin nicht resistent gegenüber Angriffen, vor allem, wenn sie
auf persönlicher Ebene erfolgen und eventuell gar mit Drohungen verbun-den sind. Hassbriefe treffen mich zutiefst, weil ich ja nie Hass schüren, sondern den Menschen lediglich etwas von meiner Begeisterung weitergeben möchte. Denn durch die Beschäftigung mit der Landschaft habe ich ihr Lächeln entdeckt.

Raimund Rodewald unterwegs auf dem Guyer-Zeller-Wanderweg bei Bäretswil im Zürcher Oberland.

Wer sich engagiert und exponiert, macht auch Fehler, oder?

Mit Sicherheit! Auch ich hatte meine Ausbrüche und dabei nicht immer das richtige Wort getroffen. Aber ich habe dadurch nach und nach auch eine spielerische Leidenschaft entwickelt und gelernt, wie Konflikte ausgetragen und gelöst werden können. Wichtig ist, dass man auf Augenhöhe eine gemeinsame Argumentationslinie sucht und nicht stets aneinander vorbeiredet. Und so darf ich nach fast 35 Jahren bei der Stiftung Landschaftsschutz behaupten: Ich bin in wenige Fettnäpfchen getreten und habe keine Leichen im Keller hinterlassen.

Womit mussten Sie sich vor allem befassen, als Sie 1992 die Stelle als Geschäftsleiter der SL?

Im Zentrum stand das Raumplanungsgesetz (RPG) und der Brennpunkt «Bauen ausserhalb der Bauzone», ein Dossier, das mein Vorgänger Hans Weiss angerissen hatte und mir bei meinem Arbeitsbeginn im Januar 1990 gleich übergab. Der sogenannte «Stöcklikrieg im Emmental» war der Startschuss zahlreicher medialer und politischer Kontroversen. Die Referendumsabstimmung 1999 zur RPG-Teilrevision war dann meine erste grosse öffentliche Debatte. Anfang der 90er-Jahre nahmen auch die Versuche zur Abschaffung des Verbandsbeschwerderechts zu. Das dritte grosse Thema drehte sich um den Tourismus, insbesondere die skitouristischen Erschliessungen, den Pistenausbau und die Schneekanonen. Geholfen hat mir das hervorragende Umfeld in der Stiftung, das bestehende politische Netzwerk. Ich lernte rasch Bundesrichter, Staatsrechtlerinnen und einflussreiche Persönlichkeiten kennen. Ausgezeichnete Podien boten auch unsere Jahrestagungen, die damals noch häufigen Pressekonferenzen und die parlamentarische Gruppe Natur- und Heimatschutz. Und mit Hans Weiss hatte ich – wenn auch nur kurze Zeit– einen hervorragenden Mentor.

Neue Menschen bringen in der Regel neue Ideen. So ist wohl der Strategiewechsel der Stiftung von 1993 zu erklären. Worum ging es?

Bereits Hans Weiss hatte erkannt, dass es nicht darum gehen könne, sich bei Grossprojekten, die im Wesentlichen Aufgabe der Gründerorganisationen wie Heimatschutz und Pro Natura wären, die Zähne auszubeissen, sondern vermehrt strategisch zu handeln. So entstand die Frühwarnrolle der SL. Dieser Gedanke floss schliesslich in die Unternehmensstrategie von 1993 ein. Demnach muss die SL zwei Sachen verfolgen: 1. Einfluss nehmen über die Politik. Das haben wir uns zu Herzen genommen und wichtige Gesetzesrevision inhaltlich nachhaltig geprägt, wie beim Wald- und beim Wasserbaugesetz, beim Moorlandschaftsschutz, bei den Direktzahlungen etc. Der 2. Punkt der Strategie war die Projekt- und Konfliktlösungsarbeit ganz konkret und in allen Landesteilen. Dies hat uns bis heute viel Anerkennung eingebracht.

Raimund Rodewald Raimund Rodewald
Raimund Rodewald unterwegs auf dem Guyer-Zeller-Wanderweg bei Bäretswil im Zürcher Oberland.

Der im Herbst 2022 beschlossene Solarexpress bringt Sie zum Schluss Ihrer Amtszeit nochmals gehörig in Schuss. Wie müssen Sie sich wohl fühlen, wenn in den Alpen plötzlich Solarplantagen möglich sein und Hunderte Windräder in der Schweiz für Energie sorgen sollen?

Das wäre eine Katastrophe! Es schmerzt mich, dass die Bedeutung der Landschaft und des Landschaftsschutzes als Teil unserer schweizerischen Identität im Parlament offensichtlich keinen Stellenwert mehr hat. Seit September 2022 findet eine eigentliche Erosion unter der Federführung des Ständerates in sämtlichen zur Debatte stehenden Umweltthemen statt.

«An diesem Tiefpunkt war der Landschaftsschutz noch nie!» haben Sie
in einem Interview gesagt.

Ich hoffe, der Tiefpunkt ist nun erreicht. Klar ist, dass dieser Abbau des Natur- und Landschaftsschutzes eine Gegenbewegung auslösen wird. Was sich namentlich der Ständerat erlaubt hat, löst bei mir Erschütterung aus. Ich frage mich ernsthaft, wo noch ein verfassungsmässiges Gewissen besteht. Ich bin zwar Biologe, kenne aber das Recht und habe eine hohe Achtung vor dem Grundsatz, dass die Rechtssetzung innerhalb des verfassungsmässigen Staatsrechtssystems stattfinden muss. Die bislang vier Beschleunigungserlasse im Energie-bereich richten sich gegen wichtige Grundpfeiler unseres Rechtsverständnisses. Dem Primat der Beschleunigung wird alles untergeordnet, selbst die Nachhaltigkeit und die Schonung von Natur- und Landschaft.

Es war nicht nur der Ständerat, der den Solarexpress unterstützt hat.

In der Tat, innerhalb von drei Wochen wurde quer durch die Parteien mitgeholfen, sämtliche Eckpfeiler der demokratischen Interessenabwägung vom Tisch zu wischen. Alle haben am Bashing des Landschaftsschutzes und der Raumplanung mitgemacht.

Sie klingen ziemlich resigniert.

Ja und nein. Aus meinen 35 Jahren Erfahrung mit der Bundespolitik weiss ich, dass das Verhältnis Nutzen zu Schützen sich wellenartig bewegt. Landschaftsschutz ist nie für immer gesichert, es braucht immer eine Mahnerin wie die SL, die gezielte Nadelstiche in die Selbstgefälligkeit der utilitaristischen Denkweise setzt.

Raimund Rodewald Raimund Rodewald
Raimund Rodewald unterwegs auf dem Guyer-Zeller-Wanderweg bei Bäretswil im Zürcher Oberland.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft?

Ich kann keine Garantie abgeben, dass alles, was wir über die Jahre erreicht haben, auch in Zukunft gesichert ist – nicht einmal beim Verbandsbeschwer-derecht. Die Begehrlichkeiten, daran zu rütteln, werden wieder stärker. Und ich würde bei dieser politischen Konstellation auch nicht meine Hand ins Feuer legen und garantieren, dass der 1986 erreichte Schutz der Greina samt Landschaftsrappen auf die Dauer bestehen bleibt. Man muss daher wachsam bleiben! Die neue Doppelführung der SL mit Franziska Grossenbacher und Rahel Marti wird die unverzichtbare Aufgabe des Landschaftsschutzes mit neuen Narrativen beseelen und das Ruder wieder herumreissen.

Sie schienen froh zu sein, in den Ruhestand treten zu dürfen.

Ja, obwohl ich sagen darf, dass ich einen Traumberuf ausüben konnte. Ich fühle mich auch keineswegs ausgelaugt. Gleichzeitig stosse ich als Person mit dem aus meiner Sicht völlig ungerechtfertigten Stigma des grossen Verhinderers an Grenzen. Die neue Doppelführung der SL wird die unverzichtbare Aufgabe des Landschaftsschutzes mit neuen Narrativen beseelen und das Ruder wieder herumreissen. Davon bin ich überzeugt.

Haben Sie schon Pläne für die Zeit nach der SL?

Ich habe im Stiftungsrat ein «Gelübde» abgelegt, dass ich mich nach meinem Ausscheiden nicht mehr in die Tagesgeschäfte einmischen werde. Von mir wird es künftig keine öffentlichen Kommentare und keine Leserbriefe geben zur aktuellen Landschaftspolitik. Ich werde mich mehr der Lehre und Wissenschaft widmen und auch länger gehegte Publikationen zu meinem Lieblingsthema «Arkadien» aber auch zu einem «Prinzip Schonen» in Angriff nehmen. Ein paar Mandate und auch Projektberatungen verfolge ich aber auch weiterhin, denn die Landschaft ist mir natürlich weiter sehr am Herzen. Auch zum 100. Todestag von Rainer Maria Rilke 2026, eine wichtige Inspirationsquelle für mich, hege ich Veranstaltungsideen. Kurzum: Ich werde mich nicht als Rentner fühlen, eher als Rentier, das wieder in die freie Wildbahn entlassen wird. Ich lasse mich überraschen, was ich da antreffe.

Sie haben in all den Jahren immer auch mit dem Schweizer Heimatschutz zusammengearbeitet. Wie haben Sie diese Zusammenarbeit erlebt?

Sie war für mich sehr lehrreich. Sehr angesprochen haben mich vor allem die kulturhistorischen Aspekte, die beim Heimatschutz einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Verbindend ist immer die gleiche Frage nach der Qualität
des Ortes, dem «sense of place» und die Herausforderung des neuen Bauens. In vielen Gremien arbeiten wir auch
eng zusammen. Gerade die Förderung der Baukultur, die der Ständerat notabene aus der Kulturbotschaft gestrichen hat, verbindet Landschaft mit dem bebauten Raum. In vielen Rechtsfällen konnten wir zusammen mit der Bauberatung vieles erreichen. Ich habe von den Fachleuten beim Heimatschutz, wie der Bauberaterin Beate Schnitter, viel gelernt – wahrscheinlich weit mehr als sie von mir.

Raimund Rodewald Raimund Rodewald
Raimund Rodewald unterwegs auf dem Guyer-Zeller-Wanderweg bei Bäretswil im Zürcher Oberland.

Die neueste Heimatschutz-Publikation trägt den Titel Die schönsten Aussichten. Gibt es eigentlich Kriterien für eine «schöne» Landschaft?

Aus Umfragen kennen wir allgemeingültige Kriterien einer schönen Landschaft, dennoch spreche ich lieber von ortsspezifischen Charakteristiken, die durchaus nicht nur subjektiv sind. Landschaft unterscheidet sich von Land ja durch die Wahrnehmung, die sowohl kognitiv wie sinnlich ist. Schönheit liegt aber, wenn man die 2400 Jahre alte Geschichte seit Platon verfolgt, keineswegs nur im Auge des Betrachters. Landschaftliche Schönheit ist weder ein Konstrukt in unserem Hirn noch eine reine Geschmacksache. Mich interessiert vielmehr, welche ästhetischen Qualitäten in einer Landschaft möglichst wertungsfrei stecken, die auch vermittelt werden können. Daraus folgt: Jeder Ort hat eine Qualität, gegebenenfalls nur noch eine potenzielle, die sich aber entwickeln darf und auch soll.

Auch die SL prämiert seit 2011 jährlich eine «Landschaft des Jahres». Ob die schönsten Aussichten oder die Landschaft des Jahres – die Frage, die sich stellt, ist dieselbe: Ist es nicht problematisch, Menschen an einen Ort zu locken und somit in Kauf zu nehmen, dass zerstört wird, was als besonders schön propagiert wird?

Hans Magnus Enzensbergers Aussage der Zerstörung dessen, was der Tourist sucht, ist natürlich zugespitzt auf das Thema des «Overtourism». Dennoch entsteht die Wertschätzung der Natur- und Kulturwerte erst durch eigene Erfahrungen. Die Paradoxie bleibt aber.

Raimund Rodewald Raimund Rodewald
Raimund Rodewald unterwegs auf dem Guyer-Zeller-Wanderweg bei Bäretswil im Zürcher Oberland.

Ein Phänomen sind die via soziale Medien verbreiteten Landschaften und Orte, die plötzlich über Nacht weltberühmt werden und dann von Massen geflutet werden.

Ein Blick auf das Verhalten erklärt das Phänomen. Menschen stossen über die sozialen Medien auf das Bild einer Landschaft, eines Ortes oder eines Gebäudes und pilgern hin. So wird eine via simples Handyfoto individuell erlebte Schönheit zum Allgemeingut. Aus einem subjektiven Erlebnis wird ein Massenphänomen. Plötzlich strömen Tausende zum Fototermin an den vermeintlich einsamen Schiffssteg im bernischen Iseltwald. Die Täuschung wird dann zur Enttäuschung. Ästhetik wird zur Anästhetik. Diese Massensehnsucht nach Landschaft kann auch als Reaktion auf eine entzauberte Alltagswelt gesehen werden, verbunden mit dem Klischee, dass im Mittelland nichts Attraktives zu finden ist. Ich würde diese Touristen am liebsten vom Steg weg in die nahe Landschaft locken, damit sie Schönheit als Alltagswert erfahren und wertschätzen. Denn Schönheit ist oft nicht das, was als solche deklariert wird, sondern das, was man allein für sich selbst findet.

Und was macht «gute Architektur» von «Stararchitekten» in einer Landschaft? Sind sie eine Bereicherung oder stören sie in der Landschaft?

Das kommt auf das entsprechende Narrativ an, das bei skulpturaler Architektur sehr heikel sein kann. Wenn die Bedeutung eines Gebäudes allein in seiner skulpturalen Erscheinung fusst und keine Geschichte mit dem Standort erzählt, wirkt das schnell störend. Ähnlich wie das veraltete Prinzip des «Form follows function» suggerierte, sollte Form, Funktion und Standort eines Gebäudes kohärent sein und letztlich auch einen objektiv-gültigen und sprachlich vermittelbaren Wert innehaben. Man kann Kunstwerke durchaus in eine Landschaft setzen. Tut man das, müssen sie jedoch eine Antwort liefern auf die Frage: Was macht das mit dem Ort?

Lesen

Heimatschutz/Patrimoine 4/2024: Die schönsten Aussichten

Bestellen

Publikation: «Die schönsten Aussichten» im Webshop